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„Früher war alles besser“

Alltag in Nicaragua: Das einst so beliebte Reiseziel der Polittouristen ist aus dem Blickwinkel geraten. Nach dem Ende der sozialistischen Exotik hat das mittelamerikanische Land nur wenig Erbauliches zu bieten  ■ Von Ralf Leonhard

„Früher war alles besser hier“, knurrt der Taxifahrer und kratzt sich nachdenklich den Stoppelbart, „Nicaragua war einmal ein Land, wo man leben konnte.“ In der Regierung, meint er, seien nur Leute, die an die eigene Tasche denken. „Aber das Volk? Wen interessiert schon, wie es uns geht?“

Die Taxifahrer waren immer schon sehr kritische Staatsbürger. Während der sandinistischen Zeit, als das Beschaffen von Ersatzteilen einen bürokratischen Spießrutenlauf oder einen Kniefall vor den halsabschneiderischen Schwarzhändlern bedeutete, schwärmten sie von den „goldenen Zeiten“ unter Somoza und meinten damit die Ära vor dem Erdbeben von 1972, das aus ihrer schönen Hauptstadt einen Schutthaufen machte. Damals gab es reichlich Arbeit, und der Dollar rollte. Selbst die Armen konnten sich hin und wieder Fleisch leisten, und die Korruption der Mächtigen war erträglich, weil für alle etwas abfiel.

Heute spricht man von 60 Prozent Arbeitslosigkeit. „Schauen Sie sich dieses Elend an“, sagt der Taxifahrer und verscheucht ein Mädchen, das sich mit einem Eimer Wasser und einem Schaumgummiwischer über seine Scheibe hermachen will. Die Kinder, statt in der Schule zu sitzen, balgen sich an jeder Straßenkreuzung um die Autofahrer, denen sie für 15 Pfennig die Windschutzscheibe putzen. „Unter den Sandinisten hat es so was nicht gegeben. Damals mußte keiner hungern“, gibt der Taxifahrer zu.

Wohl kein Volk auf diesem Kontinent ist so politisiert wie die Nicaraguaner. Während die einfachen Leute in anderen Ländern auf heikle Fragen gern die Augen zum Himmel heben und sich mit einem „Gott allein weiß!“ aus der Affäre ziehen, erzählt jeder „Nica“ bereitwillig, was er von den Politikern hält und wen er am liebsten zum Teufel jagen würde. Der rechtsradikale Bürgermeister Arnoldo Aleman hat versucht, selbst die Stadtviertel, die nach gefallenen Helden aus dem Befreiungskampf benannt sind, umzutaufen. Doch er stieß auf empörte Ablehnung bei den Einwohnern. Die Rückbenennung des „Cristian Perez“ in „Barrio Salvadorita“ – nach der Mutter Somozas – ging in die Hose. Und auch Mercado San Miguel für den seit Ewigkeiten als „Carlos Huembes“ bekannten Markt im Südosten Managuas, will sich nicht durchsetzen.

Selbst jeder Name von Genossenschaften ist ein politisches Bekenntnis. Wer sich in ein Taxi der Cooperative Carlos Fonseca Amador setzt, der weiß, mit wem er es zu tun hat. Carlos Fonseca war der Gründer der Sandinistischen Befreiungsfront. Die Genossenschaft 25. Februar würdigt das Datum, an dem die Sandinisten abgewählt wurden. Und die Mitglieder der Genossenschaft Kardinal Obando y Bravo deklarieren sich nicht nur als brave Katholiken, sondern identifizieren sich mit der erzkonservativen Kirchenpolitik.

Die Kirche hat in Nicaragua immer Politik gemacht. Nicht nur in Gestalt der Befreiungstheologen, die der sandinistischen Revolution den entscheidenden christlichen Touch gaben. Kardinal Obando macht jeden Tag mindestens ebenso viel Politik wie der Poet und Trappistenmönch Ernesto Cardenal mit seinen revolutionären Bibelinterpretationen. Mit der von einem Pizza-Millionär aus Boston gesponserten neuen Kathedrale hat Obando sich selbst ein Denkmal und der Hauptstadt ein neues Zentrum geschaffen. Klotzig sitzt diese eigentümliche Kreuzung aus AKW und Moschee zwischen zwei Einkaufszentren, den neuen Symbolen der vorherrschenden Ideologie. Der konservativen La Prensa ist jede Predigt des Oberhirten eine Schlagzeile wert. Und das Unterrichtsministerium ist fest in den Händen von treuen Gefolgsleuten des Kardinals.

Der starke Einfluß der Kirche hält die Nicaraguaner aber nicht davon ab, die Zehn Gebote Gottes – mit Ausnahme der Verehrung der Mutter – mit schöner Regelmäßigkeit und ohne Gewissensbisse zu verletzen. Ein Fremder, der die Spielregeln nicht kennt, gerät leicht in Rage. Denn wer einem Nica Geld borgt, muß wissen, daß das eigentlich als Schenkung verstanden wird. Die Sandinisten, die den Bauern mehrmals die Bankschulden erließen, haben diese Unsitte noch gefördert und mit ihrer Botschaft von Gleichheit und Gerechtigkeit die totale Anarchie auf dem Land geschaffen.

„A desalambrar“, „Reißt die Zäune nieder“, heißt ein berühmtes Lied des uruguayischen Gitarristen Daniel Viglietti, das im letzten Jahrzehnt viel gesungen wurde. Jetzt heißt es wieder Einzäunen. Denn wer sein Hab und Gut nicht schützt, der ist selber schuld. Selbst jene, die einst für die Abschaffung des Privateigentums auf die Barrikaden gestiegen sind und heute ein Stück Land besitzen, kommen nicht umhin, ihre Finca mit Stacheldraht und einem bewaffneten Aufseher zu schützen. Denn sonst tragen die verelendeten Bauern aus der Umgebung nach und nach nicht nur die Ernte, sondern auch den Holzbestand davon.

Eine besonders lockere Einstellung lassen sich die Nicaraguaner jedoch zum 6. und zum 9. Gebot bescheinigen (für alle, die nicht so bibelfest sind: es geht um die Sache mit der Unkeuschheit, die man nicht treiben, und um des Nächsten Weib, das man nicht begehren soll). Letztes Jahr enthüllte eine Umfrage, daß die nicaraguanischen Frauen früher und häufiger Sex hätten als ihre Geschlechtsgenossinnen in den Nachbarländern. Viele Mädchen hätten mit zwölf die ersten sexuellen Erfahrungen und mit vierzehn die erste Schwangerschaft. Die Durchschnittsfrau hat dreimal die Woche Geschlechtsverkehr, der Durchschnittsmann hingegen nur 2,4mal. (Irgendwer lügt, denn von lesbischen Beziehungen war nicht die Rede.) Statt die Symptome einer gestohlenen Kindheit zu analysieren, freuten sich die meisten auf die Umfrage angesprochenen Frauen, daß sie den Kolleginnen in Costa Rica und Honduras zumindest im Bett überlegen seien.

Die Wahrheit dürfte sein, daß man seit der sandinistischen Revolution über diese Dinge offener redet. Denn daß Männer fremdgehen, ist seit jeher sozial akzeptiert. Die Psychologin Auxiliadora Marenco schätzt, daß heute zumindest jede dritte Frau gelegentlich ein fremdes Bett aufsucht, während 99 Prozent der Ehemänner eine Freundin haben. Letzteres ist so selbstverständlich, daß man nicht darüber spricht, aber nicht mehr so selbstverständlich, daß sich alle Frauen damit abfinden. Viele ziehen es heute vor, sich mit ihren Kindern allein durchzuschlagen.

Die Zeiten sind weiß Gott schwierig genug: Männer, die mehr Geld versaufen, als sie nach Hause bringen, und die sich nur zum Kindermachen sehen lassen, bevor sie wieder zur Geliebten abziehen, fliegen immer häufiger raus. Während in der Ober- und Mittelschicht noch gerne die Fassade der glücklichen Ehe gewahrt wird, haben in proletarischen Kreisen mehr als die Hälfte aller Familien ein weibliches Oberhaupt. Daß sich die Nicaraguaner eine Frau zum Staatschef gewählt haben, hat andere Gründe.

Daß unter der tropischen Hitze, die die nicaraguanische Kultur geprägt hat, überhaupt etwas funktioniert, ist schon erstaunlich genug. Daß alles etwas langsamer läuft und die Dinge mit weniger Hektik angegangen werden, ist sympathisch, wenn nur die lästigen Amtswege dadurch nicht noch nerviger und zeitraubender würden. Um kürzlich das wegen Zahlungsverzugs gesperrte Telefon wieder angeschlossen zu bekommen, mußte ich der Reihe nach an fünf verschiedenen Schaltern anstehen.

Auf Ämtern kann man immer wieder interessante Erfahrungen machen. Als ich einen Brief, den ich tagelang in der Tasche herumgeschleppt hatte, am Postschalter abgeben will, weigert sich die Frau hinter dem Schalter, diesen anzunehmen. „Das Kuvert ist schmutzig. Die Leute in Europa werden glauben, wir sind Schweine“, gibt sie mir zu verstehen. Basta! Ich muß nach Hause und den Brief umpacken. Der Sauberkeitsdrang der Nicas ist eine Tugend, mit der sie Europäer oft beschämen. Selbst aus der ärmsten Hütte, wo das Wasser angeschleppt werden muß und der Staub in die intimsten Winkel eindringt, kommen die Frauen wie aus dem Ei gepellt zur Arbeit. Wenn sie denn Arbeit haben.

Den Nicaraguanern blieb nichts erspart. Ein Dreißigjähriger kann sich an das verheerende Erdbeben von 1972 erinnern, hat eine repressive Diktatur, ein sozialistisches Experiment, zwei Bürgerkriege, einen Vulkanausbruch, eine Springflut, einen Hurrikan und zahllose Hochwasser- und Dürrekatastrophen miterlebt. All diese Heimsuchungen hat das Gemüt der Nicas relativ unbeschadet überstanden. Doch die unter der Chamorro-Regierung ausgebrochene Arbeitslosigkeit drückt schwer auf die Psyche. Der tägliche Streß, den die Sicherung des nackten Überlebens auslöst, hat viele mürrisch und verbittert gemacht. Mehr als die Kriegspsychosen ist diese Verzweiflung schuld an einer fast endlosen Serie irrationaler Verbrechen: Taxifahrer werden für eine Beute von zehn Mark erschossen, Ehefrauen wegen eines lächerlichen Streits erdrosselt, Kinder, die ihren Vätern auf den Geist gehen, zu Krüppeln geprügelt. Villeneinbrüche werden zunehmend von bewaffneten Banden mit Kalaschnikows verübt. Auf den Straßen krachen ständig Autos zusammen, weil die Fahrer unter Nervosität oder Alkoholexzessen die Kontrolle verlieren. In der Krise gedeihen Satanskult und dubiose Sekten.

Derzeit gibt es keinen Anlaß zur Hoffnung, daß diese Generationen noch bessere Zeiten erleben werden. Wirtschaftsforscher haben errechnet, daß Nicaragua bei einem jährlichen Nettowachstum von einem Prozent im Jahr 2058 wieder das Niveau von 1978 erreicht haben würde. Die Nicaraguaner werden also noch ziemlich lange zu Recht sagen können: „Früher war alles besser.“ Ralf Leonhard

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