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„Sarajevo wird nie eine geteilte Stadt sein“

■ Interview mit Enes Cengic, dem Premierminister von Sarajevo, über Krieg, Frieden und die Zukunft von Bosnien-Herzegowina / Besuch in Bremen: „Frieden mit den Serben gibt es nur mit einer starken bosnischen Armee“

Enes Cengic ist „Premierminister des Distrikts Sarajevo“. Der 37jährige wurde im August 1993 zum „Prime Minister“ des Distrikts gewählt, der einer von acht bosnischen Verwaltungseinheiten ist. In Gebiet von Sarajevo und Umgebung leben derzeit etwa 500.000 Menschen, Muslime, Kroaten, Serben und andere Nationalitäten. Derzeit regiert Cengic über etwa 75 Prozent seiner Provinz, der Rest ist von bosnischen Serben und serbischer Armee besetzt. Cengic war zu politischen Gesprächen in Deutschland.

Wie ist jetzt die Situation in Sarajevo? Eines der letzten Bilder im Fernsehen waren die Straßenbahnen, die wieder fahren. Kehrt das Leben zur Normalität zurück?

Cengic:In Sarajevo wird die Situation schrittweise besser. Aber wenn nicht alle serbischen Truppen aus dem Belagerungsring um Sarajevo abgezogen werden, gibt es keine Chance auf ein wirkliches Ende des Krieges. Der Teil von Sarajevo links des Milacka-Flusses wird von Serben kontrolliert. Aber wenn man jeden Tag beschossen worden ist, ist es schon ein Fortschritt, wenn man nicht mehr jeden Tag beschossen wird. Wir hatten im November und Februar besondere Situationen, wo die Tschetniks viele Menschen in den Straßen und auf den Plätzen getötet haben. Die Schießereien haben aufgehört, aber vor zwei Tagen haben die Serben wieder direkt in die Straßen geschossen und es gibt immer wieder Provokationen an der Front.

Sarajevo ist eine geteilte Stadt. Ein Teil wird von der bosnischen Armee kontrolliert, der andere von Serben. Wird das ein permanenter Zustand sein? Wird es werden, wie es in Berlin war, mit einer Mauer durch die Stadt?

Nein, ein Teil von Sarajevo ist in den ersten Tagen des Krieges, 1992, von den Tschetniks besetzt worden. Sarajevo war nie eine geteilte Stadt. Jetzt ist es so, aber morgen nicht mehr. Wir haben viele Probleme dabei, Sarajevo wieder zu einer Stadt zu machen und wir bemühen uns auf der diplomatischen Ebene. Aber es gibt keine Chance dafür, daß Sarajevo auf Dauer geteilt bleibt. Niemals.

Haben die Serben ihre Waffen von Sarajevo nur abgezogen, um damit jetzt in Gorazde verstärkt anzugreifen?

Die Tschetniks haben sehr viele Waffen, es ist für sie kein Problem, Waffen von Sarajevo nach Gorazde zu schaffen. Die offiziellen Informationen lauten, daß die serbischen Waffen aus dem Ring 20 Kilometer um Sarajevo zurückgezogen sind, aber das ist nicht hundertprozentig. Ich habe keine speziellen militärischen Informationen, wieviele serbische Waffen noch außerhalb von Sarajevo sind. Aber 20 Kilometer ist nicht weit. Alle guten Waffen können auch von dort schießen.

Die Tschetniks drücken nach Gorazde hinein. Die NATO hat versucht, sie zu bombardieren, hat es dann aber wieder sein lassen.

Ich habe darüber jetzt keine genauen Informationen, weil ich die letzten Tage nicht in Bosnien war. Aber wenn die UN wirklich helfen will, daß der Angriff auf Gorazde aufhört, dann ist es besser, die serbischen Stellungen zu bombardieren. Wenn sie nicht beschossen werden, gibt es keine Chance, daß sie aufhören mit ihrem Vormarsch. Die Serben und die Tschetniks setzten nur auf militärische Stärke. wenn die UN wirklich was bewegen will, muß sie auch auf Militär setzen.

Also sollte die UNO die Serben angreifen, wenn sie weiter nach Gorazde vorrücken?

Ich bin sicher, daß der Angriff gestoppt wird. Wenn die UNO nicht hilft, – nun, dann ist es Sache der bosnischen Armee. Eine Armee, die nicht viele Waffen, aber sehr gute Kämpfer hat. Sie werden die Offensive stoppen, aber das gibt natürlich ein großes Töten. Ich bin sehr stolz auf unsere bosnische Armee. Als der Krieg anfing, gab es sie noch nicht, jetzt kämpfen 19- und 20jährige Männer in Tennisschuhen, die nicht mal ihren Wehrdienst absolviert haben, sondern direkt aus der Schule kommen. Es sind sehr gute Kämpfer, aber aus der Generation sind bereits sehr viele getötet worden. Aber ohne Armee gibt es gegen die Serben keinen Frieden.

Es heißt, Bosnien sei immer ein multikultureller Staat gewesen. Wie ist das heute?

Wir sind das immer noch. Im Distrikt von Sarajevo leben 51 Prozent Moslems, etwa 29 Prozent Serben, 10 Prozent Kroaten und 10 Prozent andere Nationalitäten. Bosnien ist wirklich ein multikultureller Staat mit einer multikulturellen Regierung. In der Geschichte war Bosnien immer ein multikulturelles Land.

Viele Leute sagen, unter dem Druck des Krieges ist Bosnien viel mehr ein moslemischer Staat statt eines multikulturellen geworden. Ist das wahr?

Das ist nicht wahr. In der offiziellen Politik ist Bosnien ein multikulturelles, demokratisches Land. Wir haben ein Land gebaut, in dem alle Nationalitäten zusammenleben können, und das bauen wir wieder auf. Es geht darum, ob Du ein guter Mann bist, und nicht was die Nationalität oder Religion ist oder ob Du arm oder reich bist, um in Bosnien zu leben. Wenn du Frieden willst und keine Probleme machst, kannst Du in Bosnien leben.

Was sollten Ihrer Meinung nach die UN tun, um Frieden nach Bosnien zu bringen?

Die UN helfen in Bosnien wirklich viel. Besonders in Sarajevo hatten wir 1993 große Probleme, Lebensmittel in die Stadt zu bekommen. Die Ernährungslage ist inzwischen viel besser, aber verglichen mit Europa immer noch nicht genug. Die UN haben den Flughafen Tuzla geöffnet, es gibt die Schutzzone in Srebrenica unter Kontrolle der UN.

Gibt es eine große Strategie der UNO für Bosnien, abseits der humanitären Hilfe?

Die UN helfen mit Lebensmitteln, Medikamenten und bei der Vorbereitung für den Frieden durch Beobachter.

Hat Deutschland Ihrer Meinung nach ein strategisches Interesse im Balkan?

Nun, alle großen Länder haben ein strategisches Interesse am Balkan. Der Balkan ist eine sehr interessante Region, weil er die Brücke zwischen Ost und West ist. Wenn man da Interesse hat, kann man über den Balkan viel kontrollieren, Transport und Kommunikation. Der Balkan ist daher sehr interessant für die USA, Russland und Westeuropa.

Wie sollte die Hilfe der UN in Bosnien aussehen? Es gab Stimmen, die eine UN-Invasion befürworteten.

Jetzt haben wir Frieden. Wirklicher Frieden heißt Rückgabe der serbisch besetzten Gebiete. Wenn die UN dabei hilft, diese Gebiete zu öffnen und wieder unter Kontrolle der bosnischen Regierung zu stellen, ist das die beste Hilfe für die Bosnier.

Wie sieht die Zukunft in Bosnien aus? Kann es so werden wie vor dem Krieg?

Das Wichtigste ist jetzt, die Vorbereitungen für ein normales Leben zu treffen. Das heißt, wir müssen genügend Lebensmittel selbst herstellen, die Häuser wiederaufbauen, die Telekomunikation wiederherstellen. In der kroatisch-bosnischen Föderation wird es ein Kantonsystem geben. Es wartet viel Arbeit auf uns. Wir werden ein freies Land sein, aber wer Verbrechen begangen hat, muß ins Gefängnis. Es sind soviele Moslems, Bosnier ermordert worden von den Tschetniks, allein in Sarajevo 10.000 Menschen, davon 1.300 Kinder.

Was können die Menschen hier in Deutschland tun, um zu helfen?

Aus Deutschland kommt viel Hilfe, offizielle, die von karitativen Organisationen wie der Arbeiterwohlfahrt und solche von privaten Organisationen. Hier in Bremen gibt es das Bosnien-Komittee, das Spenden sammelt. Hilfe hat natürlich auch einen finanziellen Aspekt.

Deutschland hat vor einigen Wochen den ersten Serben verhaftet, der in Bosnien gefoltert und gemordert haben soll. Was meinen Sie dazu?

Das sollte öfter passieren. Es wäre gut, wenn die anderen europäischen Ländern dem deutschen Beispiel folgten. Diese Verbrecher müssen verfolgt werden, denn wenn die „ethnischen Säuberungen“ in Bosnien toleriert werden, dann könnten sie bald auch in anderen europäischen Ländern geschehen, wo verschiedene Volksgruppen zusammenleben. Ich hoffe, daß die Verbrecher in der ganzen Welt verfolgt werden.

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