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Krank durch Umweltchemikalien

■ Kleine Schadstoffmengen können schon ausreichen, um eine Pseudoallergie auszulösen / Mediziner wollen jetzt mehr über diese Krankheit in Erfahrung bringen

Hamburg (dpa) – Den Professor traf seine Krankheit hart: Immer wenn er ein neues Buch aufschlug, schwollen ihm die Augen zu, die Nase begann zu brennen, und die Augen tränten. Nach einiger Zeit fand er heraus, daß die Ausgasungen der frisch bedruckten Seiten der Auslöser für seine Beschwerden waren. Der Büchernarr wußte sich zu helfen; er lagerte die gewichtigen Werke zunächst einige Zeit aufgeschlagen auf der Heizung, bevor er sich in sie vertiefte. So ließ es sich mit den Beschwerden leben, für die sein Hautarzt bisher keine Erklärung fand.

Einige Mediziner glauben aber, den Grund für derartige Phänomene zu kennen: Durch diese oder ähnliche Symptome soll sich ihrer Meinung nach eine Krankheit äußern, die sie Multiple chemical sensitivity (MCS) tauften. Ein Betroffener – meist ist er selbst mehr oder minder stark mit Chemikalien vorbelastet – reagiert dabei auf eine oder mehrere chemische Substanzen in seiner Umwelt übersensibel oder leidet beispielsweise an Schmerzen und Atemwegsbeschwerden. Die Krankheitszeichen sind ähnlich wie bei einer Allergie, doch bestimmte Antikörper, die für Allergien typisch sind, lassen sich im Blut der Betroffenen nicht finden. Manche Mediziner sprechen deshalb von einer „Pseudoallergie“.

Andere Ärzte bestreiten, daß es diese Überempfindlichkeit auf chemische Substanzen überhaupt gibt. Deshalb will jetzt eine Forschergruppe mit Unterstützung der Europäischen Union der Krankheit auf den Grund gehen. Mit einer Befragung von Ärzten in Belgien, Dänemark, den Niederlanden, Schweden und Großbritannien wollen die Forscher mehr über das neue Leiden erfahren.

„Wir brauchen dazu die Mitarbeit möglichst vieler Ärzte“, fordert Birger Heinzow, Leiter der Untersuchungsstelle für Umwelttoxikologie des Landes Schleswig- Holstein, in der Zeitung für Umweltmedizin. Heinzow koordiniert das Projekt für Deutschland. Die Forscher wollen zunächst herausbekommen, wie viele Ärzte und Institutionen überhaupt Patiententen mit MCS behandelt haben. Außerdem interessieren sich die Wissenschaftler für die verdächtigen, auslösenden Chemikalien und die genaueren Umstände, unter denen das MCS-Syndrom auftritt.

Heinzow wertet die Umfrageergebnisse zusammen mit dem Projektleiter Professor Nicholas Ashford vom amerikanischen Massachusetts Institute of Technology und Professor Lars Molhave vom Institut für Umwelt- und Arbeitsmedizin der Universität Aarhus in Dänemark aus. Schon zum Jahresende wollen die Forscher erste Ergebnisse vorlegen.

So neu die Krankheit für europäische Mediziner auch sein mag, in den Vereinigten Staaten gibt es bereits seit einigen Jahren Forschungen auf diesem Gebiet. Vorreiter ist dort vor allem der Umweltmediziner William Rea, der in seiner Klinik in Dallas nach eigenen Angaben bereits über zwanzigtausend MCS-Patienten behandelte. Er hat seine Erfahrungen in dem Buch Chemical sensitivity zusammengefaßt.

Rea meint, daß praktisch alle Körperteile und Organe Überreaktionen auf chemische Substanzen zeigen können. So könnte eine chronisch verstopfte Nase ebenso auf die Krankheit hinweisen wie Hautreaktionen oder schlecht funktionierende innere Organe. Typisch sei, daß nicht jeder Mensch gleich auf die selbe Substanz reagiere. Wie stark eine solche Krankheit zum Ausbruch komme, hänge nicht zuletzt vom Ernährungszustand, von den Vorerkrankungen und von der genetischen Disposition des Patienten ab. Entscheidend für das Auftreten von Krankheitssymptomen sei, wie stark der einzelne mit Chemikalien wie etwa Pestiziden oder Lösungsmitteln vorbelastet sei.

Rea vergleicht den Körper eines solchen Patienten mit einem Faß, das langsam vollläuft: Schließlich reiche nur noch ein winziger Tropfen – etwa eine kleine Schadstoffmenge –, um es zum Überlaufen zu bringen. Gaby Guzek

Interessierte Ärzte können den Fragebogen anfordern bei: Zeitung für Umweltmedizin, Bei den Mühren 69a, 20457 Hamburg

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