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Im April weiß Japan nicht weiter

Die Erklärung für die Tokioter Regierungskrise liegt in der ungeklärten Zukunft des japanischen Wirtschaftsmodells / Miti hat sich geändert  ■ Aus Tokio Georg Blume

Erst zeigte sich die Börse stabil, dann setzte sie für kurze Zeit zum Sturzflug an, nur um sich wenig später zu erholen und seither die besten Aussichten zu suggerieren. Tatsächlich regiert das schönste Aprilwetter am japanischen Aktienmarkt, seit der japanische Premierminister Morihiro Hosokawa vor gut einer Woche unvermittelt seinen Rücktritt angekündigt hat.

Freilich zeigen die wilden, in diesen Tagen selbst für die erfahrensten Beobachter nicht vorhersehbaren Kursfluktuationen mehr an als nur die unsicheren Gewinnaussichten von Japans größten Konzernen. Denn neu in diesem Frühjahr sind nicht die sinkenden Exportchancen der Unternehmen aufgrund des hohen Yen-Kurs. Ebenfalls nicht neu ist der immer noch nicht überwundene Berg fauler Kredite aus den Spekulationsjahren, der die Banken weiterhin belastet und den Unternehmen neue Kreditaufnahmen erschwert. Neu ist vielmehr die von Tag zu Tag wachsende Gewißheit, daß dieser April in Tokio Jahre dauern kann.

Ginge es nur darum, billiger zu produzieren oder den Anschluß an neue Produktionsformen zu finden – die Japaner würden sich an die Arbeit machen und nicht von der Krise lamentieren. Doch der Rücktritt von Morihiro Hosokawa hat tiefergehende Unsicherheiten ausgelöst. Dieser Premierminister hatte Japan schließlich einen Neuanfang versprochen, und die Japaner, viele Unternehmer eingeschlossen, hatten es ihm geglaubt. Das war am Anfang sicherlich vor allem politisch gemeint. Es ging um das Ende der vierzigjährigen Herrschaft der Liberaldemokraten, um die Aufklärung skandalöser Geschichtslügen, um mehr Frauen in der Politik und um mehr Liberalität und Freizügigkeit schlechthin. Doch stellte sich nach und nach heraus, daß von dem liberalen Programm der neuen Mitte-links-Regierung zuallererst die Wirtschaft betroffen sein mußte.

Früher hatten die Japaner gesagt, solange ihre Wirtschaft erstklassig sei, könne die Politik ruhig drittklassig sein. Erst unter Hosokawa wendete sich die Erwartungshaltung der meisten: Nun sollte die Politik eine Wirtschaft reformieren, die sich unter den Folgen von Spekulationen, Überinvestitionen und weltweiter Rezession auf ein anhaltendes Niedrigwachstum einzustellen hatte.

Doch nicht nur die unmittelbaren Konjunkturprobleme zwangen zu Einsicht und Reformüberlegungen. Japans wirtschaftspolitisches Modell, geprägt von einer einflußreichen Planungsbürokratie, schien seiner Zeit nicht mehr angemessen. Erst aus der Krise der Bürokratie, die noch in den siebziger Jahren vor allen anderen den Weg in die Informationsgesellschaft erkannt hatte, sich aber mit den industriepolitisch kaum mehr kontrollierbaren Aufgaben des Multimediazeitalters der neunziger Jahre überfordert zeigte, gewann die Hosokawa-Regierung ihre langfristige Mission. Deregulierung und Marktöffnung, so lauteten deshalb ihre neuen wirtschaftspolitischen Schlagwörter. Was wird nun aus den großen Reformvorsätzen?

Zwar gibt es jetzt erste Anzeichen für eine langsame Erholung der Wirtschaft, zwar ist Toyota nach anhaltenden Absatzverlusten schon wieder auf dem Wege, seine weltweite Produktion innerhalb der nächsten Jahre zu verdoppeln. Doch inmitten der politischen Krise dieser Tage – während nämlich die Regierungsparteien bis zum Wochenende brauchten, um ein sehr vages gemeinsames Regierungsprogramm auszuarbeiten und vermutlich erst morgen Außenminister Tsutomu Hata als Kandidat für das Amt des Premierministers nominiert wird – bleibt die Bürokratie der unerklärte Sieger.

„Ich sehe viele Veränderungen, aber nicht nur gute“, kritisiert der liberaldemokratische Abgeordnete Shokei Arai die Regierungskoalition. „Denn der Einfluß der Bürokraten auf die Politik ist unter der unerfahrenen Koalition größer, als er je zu Zeiten der Liberaldemokraten war.“

Arai gibt unumwunden zu, daß die damalige Handhabe seiner Partei über die Bürokratie auf einem Sytem gegenseitiger Vorteilnahme beruhte und mit den Korruptionsskandalen der letzten Jahren die politische Krise in Japan erst herbeiführte. Doch er stellt zu Recht fest, daß neue Wege der Zusammenarbeit zwischen Politikern und Bürokraten auch unter Morihiro Hosokawa noch unerprobt blieben.

Das lag vor allem daran, daß niemand wußte, wohin der zunächst mit populistischen Parolen angeheizte Kampf gegen die Bürokratie führen sollte. Die Bürokratie war für die Politiker aller Lager bisher ein Mittel zum Zweck, sie half beim Erreichen eines hohen Wirtschaftswachstums. Erst dann fiel manchem auf, wie schwer sich die Kontrolle ganzer Wirtschaftszweige wie etwa der Bauindustrie oder der Landwirtschaft der Bürokratie heute wieder entreißen läßt.

Trotzdem wagte bisher noch keine Partei, als Abhilfe den Glauben an die reine Lehre der freien Marktwirtschaft zu predigen. Denn auf der anderen Seite sichern viele bürokratische Vorschriften noch immer Millionen billiger Arbeitsplätze im Land. Von den Aufsehern der Baustellen bis zu den Führern der großen Kaufhausfahrstühle verdanken viele Angestellte der Bürokratie ihren Job, der von den Unternehmen sonst längst wegrationalisiert worden wäre.

„Mit Reformen in der Wirtschaft ist es wie im richtigen Leben“, beschreibt der Wirtschaftspolitiker Banri Kaieda, ein Berater des noch amtierenden Premierministers Hosokawa und entschiedener Reformbefürworter, die verworrene Lage. „Um zwei Schritte vorwärts zu gehen, muß man erst einen zurück gehen.“ Doch Kaieda ist überzeugt, daß der Trend zur Liberalisierung in Japan anhält. Er begründet das mit den Interessen des Auslands: „Die Japaner haben erkannt, daß sich ihr Land den Gesetzen anderer Länder anpassen muß und in der Weltwirtschaft nicht mehr eine Sonderrolle spielen darf.“

Doch wie lange es dauert, bis Japan die Spielregeln auf seinem Binnenmarkt so verändert, daß auch ausländische Unternehmen leichten Zutritt haben, weiß auch der Regierungspolitiker Kaieda nicht zu sagen. Ließen die jüngsten Parteikämpfe in der Politik und die seit einer Woche ungeklärte Machtfrage nicht eher vermuten, daß die Handlungsunfähigkeit der Politik gegenüber der Bürokratie auf längere Zeit erhalten bleiben würde?

Im Tokioter Wirtschaftsministerium Miti hat man auf diese Frage derzeit eine überraschende Antwort: „Sie haben vollkommen recht, daß unser Einfluß auf die japanische Außen- und Handelspolitik in letzter Zeit eher gestiegen ist“, räumt der Chef der Europaabteilung im Miti ein, „doch wir selbst haben uns inzwischen geändert, weil wir merken mußten, wie sehr uns die Regierung Hosokawa die eigene Arbeit erleichterte. Zum ersten Mal konnten wir im Ausland glaubwürdig machen, daß Japan sich ändern und die Märkte wirklich öffnen will.“

Wieweit der Miti-Ministeriale, Kraft seines Amtes Schutzherr der japanischen Wirtschaft, nur als Diplomat oder in wirklicher Einsicht sprach, das hätte gerade die Börse zeigen müssen. Der gescheiterte Reformer Hosokawa – hieß das nun Chance oder Abschwung für die japanische Wirtschaft?

Würde der nunmehr denkbare Reformstopp der japanischen Wirtschaft helfen, indem er den Heimatmarkt vor der Liberalisierung und dem Zugriff der ausländischen Konkurrenz bewahrt? Oder würde er ihr vielmehr schaden, weil die Liberalisierung auch für japanische Unternehmen neue Wachstumschancen versprach?

Weil eben niemand diese Fragen schlüssig beantworten kann und weil noch keiner Partei ein neues Wirtschaftsmodell eingefallen ist, werden sich die Wetteraussichten für die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt bis auf weiteres nicht ändern: April ohne Ende.

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