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Der zivilisierte Elefant

Unter der Leselupe des Postkolonialismus wird der französische Kinderklassiker „König Babar“ zur Fabel einer gelungenen Kolonisierung  ■ Von Caroline Fetscher

Ein Schuß katapultiert das Elefantenkind Babar in seinen Zivilisationsprozeß: „Der Jäger hat die Mutter getötet.“ Ungelenk steht der kleine graue Elefant auf dem gefällten Körper der Mutterelefantenkuh. Ihr Auge, auf den vorigen Bildern ein wachblickender Punkt, hat sich in einen zugekniffenen Strich verwandelt. Es ist erloschen. Aus den Augen des Elefantenkindes aber träufeln in feiner Strichellinie die Tränen.

Seit 1929 erschüttert dieser Satz die Kinder da, wo „Die Geschichte von Babar“ beginnt. Das Bild vom bösen Elefantenjäger, der den kleinen Babar zum Waisenkind macht, kolonisierte ganze Generationen von Kinderköpfen in ihren bourgeoisen und petitbourgeoisen Kinderzimmern – zunächst in Frankreich, dann in ganz Westeuropa und inzwischen von Japan bis in die Vereinigten Staaten. Was aber, ist die Frage, wird eigentlich gelesen, wenn der elegante Elefant Babar, sein Vetter Artur, Cornelius, Zephir und die alte Dame erscheinen und den Kindern eine Welt in der Welt gründen?

Wie bereits den „Struwwelpeter“ („repressiv“) und „Max und Moritz“ (ebenfalls) kann man im Zeitalter des Postkolonialimus den Kinderklassiker des Franzosen Jean de Brunhoff noch einmal und diesmal ganz anders lesen. Als Leitformel für diese Neulektüre könnte die Gleichung gelten: Elefant = Afrikaner (= Wilder = Kind). Um nichts Geringeres nämlich dreht es sich beim „Babar“: um eine illustrierte Geschichte der Legitimation des Kolonialismus, einen Mythos mithin. Konsequent durchzogen vom Gelichter der Aufklärung.

Dieses Motiv taucht bereits mit dem erlöschenden Auge der afrikanischen Mutter auf. Sobald das alte Licht erlischt, das Elefantenkind seine sinnliche Beziehung zu Herkunft und Vergangenheit opfern muß, kann ihm ein Licht aufgehen über sich selbst. Wenig später wird es seinen größten, den adamitischen Makel erkennen: es ist nackt. Kultur beginnt hier mit der Katastrophe Muttermord durch einen weißen Jäger aus dem Mutterland der Kolonie.

Kulturschock

Im weiteren Verlauf der „Babar- Genesis“ flieht das Elefantenjunge vor den Jägern und gerät in eine Art Ideal-Kleinparis. Verloren und vergessen ist sogleich das Paradies, das uns die ersten Bilder – vor dem Mord an der Mutter – als Spielen, Lieben und Singen im „großen Urwald“, dem Kindergarten der Wilden, heraufbeschworen hatten. Zwar mutiert das Tier schon zum Menschen, doch verharrt dieser zunächst noch in infantilem Staunen. Im Kulturschock beschränkt sich das Naturkind aufs Bewundern: „Was für wunderbare Dinge er sah! Schöne Straßen! Automobile und Busse!“

Babar-Neger bewundert die Kleidung der Herren mit Zylinder oder Dienstmütze auf den Straßen, er sehnt sich danach, wie diese seinen Leib mit Textilien zu bedecken. Und schon begegnet ihm die Schicksalsgöttin in Gestalt der „alten Dame“, fortan Sponsorin seines Werdegangs. Sie hat zwar keinen Namen, aber natürlich ist sie La Grande Nation, La France selbst. Ihre revolutionären Tage hat sie hinter sich, sie lebt womöglich verwitwet, jedenfalls zölibatär, und offenbar kinderlos, und gleich schlägt ihr Herz für den Neger. Ihr Tier ist ein trottoirgewöhntes, mit einem Hundemantel ebenfalls bekleidetes Zwerghündchen. Was haben wir die alte Dame geliebt, als Kinder, weil sie Babar, dem unzivilisierten Niemand aus dem Busch, mit dem sich fast jedes in Erziehung befindliche Geschöpf der Industrienationen unschwer identifiziert, immer wieder aus der Patsche half! Sie gibt Hilfe zur Selbsthilfe, genau gesagt: Entwicklungshilfe. Konkret: Geld. Sie spielt nicht jenen Part des Mutterlandes, der an Kaffee, Edelhölzern oder gar – Elfenbein interessiert ist, sondern von ihr heißt es: „Sie machte andere gerne glücklich.“

So tritt sie also auf als Mademoiselle Développement, nicht als Madame Colón. Da sie nicht arbeitet und dennoch über Geld en masse verfügt, scheint sie reiche Erbin zu sein, weiblicher Rentier, eine Art wandelnde Bank für Entwicklungsprojekte. Als erstes schenkt sie dem exilierten Afrikaner ihr Portemonnaie, und was soll er tun: er greift zu. Bescheiden- naiv faßt der Elefant mit seinem plumpen Rüssel nach der kleinen Tasche. Ihr verdankt Babar die Kleider eines Gentleman, die Entdeckung der Frühgymnastik, der Badewanne, der gezimmerten Bettstatt und des eigenen Automobils. Sie läßt ihrem Protegé Privatunterricht in Arithmetik geben, und der lehnt abends lässig am Kaminsims in ihrem Salon, wo er, im Frack, von seinem exotischen früheren Leben draußen im Dschungel berichtet. Er ist bereits ein Évolué geworden, als ihm traurig klar wird, wie sehr er dem Leben im „großen Urwald“ nun entfremdet ist. Zum zweiten Mal sehen wir ihn Tränen vergießen – schmerzhaft ist die Kulturarbeit. Als ihn dann, wie Boten aus der Alten Welt, die getauften Verwandten Vetter Arthur und Kusine Céleste bei der alten Dame besuchen, packt er die Koffer für eine Reise in die Heimat. La France, elegisch schwarz gekleidet, steht beim Abschied schmal und rührend auf ihrem Balkon, während sich das rote Auto mit Babar am Steuer entfernt.

Daheim in Afrika, setzt der Ältestenrat der Elefanten, geblendet von Babars Fortschrittsgerät, dem Automobil, wie von seiner Kleidung, den Emporkömmling als neuen König ein. Babar verlobt sich – noch ganz im alten Kinship- System weilend – mit seiner Kusine, der himmlischen Céleste. Mit dem akkulturierten Herrscherpaar sind nunmehr die Grundfesten für kulturellen Aufschwung präsent.

Natur als Verräterin

„Babars Reisen“, der Folgeband, widmet sich der Hochzeitsreise der gekrönten Elefanten, eine Odyssee, die das Paar erneut auf die Kulturprobe stellt. Als ein gezähmter, an Fäden gehaltener Honeymoon-Mond schwebt der gelbe Reiseballon des Paares über den ans Meerblau reichenden Küstenlandschaften. Babar, der inzwischen den unentbehrlichen Überblick des Bürgers hat, betrachtet die Welt von oben herab, mit seinem Teleskop.

Doch mehrmals schüttelt die Natur das Gründerpaar des Zivilisationsmythos heftig durch. Ein Orkan läßt sie auf einer Robinsoninsel stranden, wo sie ihre erlernten Kulturtechniken als Royal Scouts unter Beweis stellen müssen. Céleste fällt unter einem Baum in einen tiefen Schlummer, und als sei es ein Alptraum, wird sie im Schlaf von halbnackten Kannibalen überfallen. Die pechschwarzen kleinen Gestalten mit Speeren – dämonische Visionen früherer Kulturstufen – umtanzen Céleste, wie Traumfiguren. Babar, ganz Soldat und Ritter, befreit die Frau aus ihren Fängen. Er, der Aufgeklärte, läßt sich von Alptraumgestalten nicht einschüchtern.

Einmal noch verlassen sich die beiden – mit üblen Folgen – auf die Natur als Retterin: auf dem Rücken eines Wals reiten die Verirrten zu einer Insel. Der Wal taucht ab, um Nahrung zu suchen, und er verspricht vorher baldige Rückkehr. Doch er hält nicht Wort – unzuverlässig ist die Natur.

Verlaß ist allein auf den großen, rettenden Dampfer Zivilisation, der die Elefanten schließlich aufliest. Nunmehr, wieder nackt und als Wilde verkannt, sehen sie sich mit weiteren Erniedrigungen konfrontiert. Während der König und seine Königin, wie die Wilden in Europas Völkerschauen des 19. Jahrhunderts, zu Zirkusattraktionen degradiert werden, bekriegen sich daheim in Afrika, wie es so typisch ist für den Tribalismus, die Stämme: Rhinozeros-Neger kämpfen aus nichtigem Anlaß gegen Elefanten-Neger. An Kampf und Streit, wir sehen es, sind die Wilden selber schuld, keineswegs die Weißen. Daß die Trophäenjäger und Muttermörder vom Anfang zu den Verwandten der alten Dame gehört haben könnten, ist jedenfalls unvorstellbar, und ihre Gewalttat wird im Verlauf der Geschichte diskret vom Tableau des Geschehens gestrichen.

Die entflohenen Zirkuselefanten finden erneut Unterschlupf bei der alten Dame. Sie, die Identitätshüterin und Harmoniestifterin, läßt das Ehepaar bei ihr – in zwei getrennten Biedermeierbettchen – nächtigen. In der Illustration erkennen wir das Bild im Bild: das Portrait der alten Dame im ovalen Rahmen, als Mittlerin genau zwischen den beiden Betten.

Ihren endgültigen Akklimatisierungsbeweis bestehen die beiden Tropenbewohner schließlich beim Skilaufen mit der alten Dame in einem an St. Moritz erinnernden Nobelkurort.

Der gezähmte Barbar

Derart gewappnet, treten die drei, Keimzelle der Entwicklungsarbeit, ihre Reise nach Afrika an. Und – oh Schreck – der Regenwald ist weg. Die einheimischen Streithähne haben ihn in ihrem Stammeskonflikt verheizt. Babar erweist sich nun wahrhaftig als der gezähmte Barbar, dem das „r“ gezogen wurde – wie der Zahn des Bösen: gewaltfrei und listenreich schlägt er die Rhinozerosse in die Flucht.

Friede kehrt ein, und die Zeit ist reif für das ganz große Programm des Zivilisierens. Im Band „König Babar“ werden alle Bemühungen, die Wilden zu Menschen zu machen, mit ungeheurem Erfolg gekrönt. Erstmals entfaltet sich jetzt, kindgerecht gezeigt, die Summe aller europäischen Herrschaftsutopien integrativ in einem einzigen Konzept. Was im Elefantennegerland entsteht, ist ein royalistischer Sozialismus, ein nichtentfremdeter, quasidemokratischer Wohlfahrtsstaat, der im Kinde den Keim zur Vorstellung eines idealen Sozialwesens sät.

Der König und sein greiser Conseiller Cornelius, der bebrillte Akademikerelefant, gucken den Ort für eine Stadtgründung aus. Er liegt am Wasser. Eine Dromedarkarawane – „aus dem Norden“ – schafft die nötigen Werkzeuge heran, und unter der Leitung ihres Königs roden und graben die Afrikaner, während die alte Dame ihnen mit dem Grammophon in Dur und Moll aufspielt, wobei sie ihr Tamtam verlernen. Das Ergebnis ist eine serielle Reihenhaussiedlung, den Musterentwürfen der Gartenstädte der zwanziger Jahre nachempfunden.

Nur die Tatsache, daß über der Siedlung, erhöht, oberhalb des bebauten Uferstreifens, zwei palastartige und zwei sie flankierende villenähnliche Gebäude thronen, verschafft dem Ganzen einen Hauch der Symmetrie und Hierarchie von Versailles oder Sanssouci. Der linke Palast, gewidmet der Arbeit, ist im nüchternen Stil der Zwanziger gehalten, während sich der rechte Palast der Kultur architektonisch als eine Mischung aus Gründerzeit und neuer Sachlichkeit zeigt. Die Villen, beherrschend, aber nicht zentral gelegen, beherbergen die alte Dame und das Königspaar.

Das Leben der Bevölkerung erblüht nun in nahezu frühmarxschem Ideal: „In Célesteville arbeiten die Elefanten den ganzen Morgen über. An den Nachmittagen tun sie, was ihnen Spaß macht. Sie spielen, gehen spazieren, lesen und träumen.“ Die dialektische Versöhnung mit dem paradiesischen Zustand zu Anfang ist erreicht, er ist in diesem aufgehoben. Hinzugekommen ist – die Arbeit. Ihr Wert wird jedoch im Äquivalententausch errechnet, von Geld ist keine Rede mehr: „Wenn Capoulosse Löcher in den Sohlen hatte, ging er zu Tapitor, und wenn Tapitor krank war, heilte ihn Capoulosse.“ Ein harmonisches Volk der Arbeiter, Handwerker und Künstler – wiewohl von Berufen für Frauen keine Rede ist.

Noch einmal kommt das Glück ins Wanken, als die alte Dame und der weise Conseiller Cornelius, von der rächenden Natur heimgesucht werden. Ihn erwischt ein Hausbrand, sie wird von einer Giftschlange gebissen. Den sorgenvollen König besucht dafür des nachts ein kathartischer, allegorischer Traum. Darin treiben kleine Elefantenengel der Vernunft die Gespenster des Bösen aus. „Liebe“, „Einsicht“, „Arbeit“, „Güte“, „Geduld“ „Ausdauer“, „Mut“ und „Glück“, allesamt in weißen Gewändern, siegen über Ekeltiere wie „Faulheit“, „Feigheit“, „Trägheit“ (die als einzige deutlich rassistisch dargestellte ,negroide‘ Züge trägt) und „Furcht“. Sie erinnern an Goyas schwarze Vögel, die die schlafende Vernunft umflattern. Als Babar aus diesem Traum erwacht, sind die alte Dame und ihr Counterpart geheilt, gesund und auf den Beinen. „Eine Woche später“ hält die alte Dame dem König und den Seinen eine kleine Rede über die Tugend der Unverzagtheit. „Laßt uns mit gutem Willen arbeiten und spielen“, sagt sie, „und wir werden immer glücklich sein.“

Wunderbare Zeiten müssen das gewesen sein, als wir Kinder uns den Kolonisierungsdrang unserer Eltern und Großeltern in Gestalt der Geschichte des kleinen Babar, so schön harmonisch zusammengebastelt, haben andrehen lassen. Babar mit neuen Augen zu lesen ist zwar ein Verlust. Doch dabei auch lustig – und notwendig.

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