piwik no script img

Die UNO ist in Goražde gestorben

■ UNO zieht nach serbischer Endoffensive ab / Goražde „am Rande einer Katastrophe“

Sarajevo/Genf/Berlin (AP/taz) – In der ostbosnischen Stadt Goražde haben serbische Einheiten gestern eine der schlimmsten Katastrophen des seit zwei Jahren wütenden Bosnienkrieges herbeigeführt. Aus einem engen Belagerungsring heraus wurden die 65.000 Bewohner wahllos mit Granaten bombardiert. Nach dem Zusammenbruch aller Verhandlungen sagte UNO-Kommandeur Michael Rose in Sarajevo: „Wir stehen am Rand einer großen menschlichen Katastrophe.“

Die Belagerer schlugen willkürlich mit ihrer Artillerie und aus Maschinengewehren zu – fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Die Informationen über das Blutbad beschränken sich auf gelegentliche Sendungen von Funkamateuren und die Berichte von vier Mitarbeitern des UNO- Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Dessen Sprecher Ron Redmond sagte gestern in Genf: „Die Menschen sind jeder Granate, jedem Heckenschützen, jedem Maschinengewehrfeuer buchstäblich ausgesetzt.“ Sie wüßten nicht mehr, wo sie sich aufhalten sollen.

Seit Beginn des Sturmangriffs am 28. März sind so viele Gebäude in der Stadt beschädigt worden, daß kaum noch eine Mauer Schutz bietet. Die Nacht zum Montag verbrachten daher viele auf der Straße. Nach den Verhandlungen vom Sonntag zwischen UNO und Serben hatten die Waffen zunächst geschwiegen. Bereits am Abend waren aber serbische Panzer kurz nach Goražde eingedrungen, und am Morgen begann wieder der Artilleriebeschuß. Dann schlug im Stadtzentrum alle 20 Sekunden eine Granate ein, wie Redmond berichtet. Eine durchschlug das Dach des Krankenhauses, wo die Verletzten der vergangenen Tage versorgt werden.

„Die gesamte Bevölkerung und auch unsere Mannschaft leben unter schrecklichen Bedingungen“, führte Redmond weiter aus. Die Menschen drängten sich immer dichter im Stadtzentrum zusammen, allein am Sonntag trafen etwa 1.000 neue Flüchtlinge ein. Sie kamen aus Dörfern der Umgebung, die einmal zusammen mit Goražde eine von der UNO zur Schutzzone erklärte Enklave im serbisch kontrollierten Ostbosnien bildeten. Die Flüchtlinge berichteten, daß die Serben mehrere Dörfer in Brand gesteckt hätten. „Sie haben gesagt, daß sie ihre Dörfer brennen sehen konnten, als sie sich auf den Weg in die Stadt machten.“ Dort gibt es kaum noch eine Möglichkeit, die Neuankömmlinge unterzubringen. Den UNHCR-Helfern war es wegen der heftigen Angriffe noch nicht einmal möglich, die in der Stadt gelagerten 40 Tonnen an Lebensmitteln zu verteilen.

Die serbische Militärführung erklärte gestern über den Nachrichtendienst SRNA, das gesamte Südufer des Flusses Drina bei Goražde sei „befreit“ worden. „Die Frontlinien befinden sich nun in der Stadt selbst“, hieß es weiter. UNO-General Rose erklärte in Sarajevo, Goražde sei den serbischen Einheiten wehrlos ausgeliefert. Es gebe kein Hindernis mehr für eine Einnahme der Stadt. Der britische Kommandeur beschuldigte die Serben, sie hätten alle Zusicherungen gebrochen.

Die UNO zog gestern früh ihre sieben in Goražde stationierten Soldaten ab. Sie hatten bis dahin die wenigen Luftangriffe der Nato gegen serbische Stellungen geleitet. Nun wurden sie mit einem Militärhubschrauber ausgeflogen. Die Haltung der UNO löste auch intern scharfe Kritik aus. In Sarajevo sagte ein Offizier der UNO- Schutztruppe Unprofor, der nicht genannt werden wollte: „Die UNO ist auf den Hügeln von Goražde gestorben.“ Der bosnische Ministerpräsident Haris Silajdzic sagte, der Westen habe Bosnien geopfert aus Angst vor Rußland, das ein „größeres faschistisches Serbien“ wolle.

Seiten 2, 8 und 10

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen