: Der fast perfekte Untertan
Im Pilotverfahren gegen einen DDR-Strafvollzugsbeamten soll geklärt werden, ob die Staats- und Parteiführung der DDR die Mißhandlungen „systematisch“ geduldet und gedeckt hat ■ Von Anja Sprogies
Potsdam (taz) – Der ehemalige Gefängniswärter der Justizvollzugsanstalt (JVA) Brandenburg zeigt sich vor dem Potsdamer Landgericht von seiner besten Seite. Es soll seinen Namen nennen, fordert der Richter ihn auf. Zackig springt der Angeklagte auf: „Kurt-Wedig V...“ Die Hacken sind fest zusammen. „Aber bitte bleiben Sie doch sitzen“, meint der Richter. V. Nimmt Platz. „Ihre Adresse?“ Der Angeklagte antwortet wieder im Stehen. Der fast perfekte Untertan. Nach oben ducken und nach unten treten. Dieses Motto hatte sich im DDR- Staat bewährt. Weit ist er damit gekommen: „Obermeister des Strafvollzugs“ durfte er sich nennen. Daß er genau deshalb vor Gericht stehen würde, damit hatte V. nicht gerechnet.
Willkürlich soll der Wärter Gefangene geprügelt haben. Von 1968 bis 1992. Wahlweise mit einem Schlagstock, einem Schlüsselring oder Fußtritten. Ein Opfer ist seitdem hochgradig schwerhörig. Ein anderer leidet noch immer an chronischen Kopfschmerzen. Dreizehn Fälle werden zur Zeit im Potsdamer Pilotverfahren gegen den DDR-Strafvollzug in Person des Gefängniswärters verhandelt. Heute findet der vierte Prozeßtag statt. Die letzten Opfer sollen gehört werden.
Sehr präzise kann sich der Zeuge Andreas P., der wegen versuchter Republikflucht in der Haftanstalt Brandenburg saß, an Prügelszenen erinnern. Wenige Tage nach seinem neunzehnten Geburtstag sei er in der JVA Brandenburg auf „die Station“ des Angeklagten verlegt worden, berichtet P. am ersten Verhandlungstag. Am Abend habe der Wärter ihn aufgefordert, zu einem „Einweisungsgespräch“ mit in sein Büro zu kommen. „Er grinste. Da merkte ich, daß etwas komisch war“, erzählt der Zeuge. „Kurz vor der Tür hat er mir seinen Schlüsselbund in die Nieren gerammt.“ Sechs weitere Unifomierte hätten dann im Büro „mit peitschenähnlichen Instrumenten“ auf ihn eingeschlagen. „Sehr exzessiv, genau auf Stellen, die weh tun“, beschreibt P. die Prügelorgie.
„Ich habe immer in Gegenwart von V. Angst gehabt“, gesteht ein 44jähriger Ex-Insasse, der wie alle anderen, die schon vor ihm ausgesagt haben, den damaligen Postenführer wiedererkennt. Der wegen versuchter Republikflucht mit einem Flugzeug zu zwölf Jahren verurteilte Mann wurde zwar nicht selbst mißhandelt, hat aber gesehen wie der Angeklagte „völlig willkürlich“ prügelte. Immer wieder seien Gefangene mit Knüppeln oder Stahlruten traktiert worden. Aus Angst, künftig selber geschlagen zu werden, wollte der Zeuge bei seinem „Erzieher“ – (so wurden die Betreuer in DDR-Knästen genannt) – Anzeige erstatten. „Sagen Sie das noch mal, dann kommen sie in Arrest“, soll der Angesprochene erwidert haben. Die Anzeige wurde nicht aufgenommen. Über diese Aussage kann sich Staatsanwalt Jan van Rossum freuen. In dem Pilotverfahren muß die Anklage nämlich zweierlei belegen. Zum einen: Hat Kurt-Wedig V. wirklich die Mißhandlungen begangen? Und weiter: Hat die Staats- und Parteiführung dieses Mißhandlungen „systematisch“ geduldet und gedeckt? Nur dann sind die Taten – nach dem Verjährungsgesetz vom März 1993 – nicht verjährt. Insbesondere letztere Frage macht den Potsdamer Prozeß zu einem Politikum, zu einem Stück Vergangenheitsbewältigung.
Van Rossum ist nicht bekannt, daß jemals ein Strafverfahren wegen Gefangenenmißhandlung in der DDR eingeleitet wurde. „Keine einzige Anzeige ist über die Mauer der Haftanstalt hinausgekommen“, meint der Staatsanwalt, der in diesem Prozeß vor allem auf die Aussagen freigekaufter Häftlinge zurückgreift. In den Zeugenstand will die Anklage zudem in den kommenden Prozeßtagen DDR-Staatsanwälte und Politiker rufen, die bestätigen sollen, daß die Taten aus politischen Gründen nicht geahndet werden durften.
Der Angeklagte bestreitet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Anweisungen, vor allem politische Häftlinge „härter“ zu behandeln, will er nicht bekommen haben. Offiziell sei lediglich „der Einsatz von einfacher Gewalt bei Renitenz erlaubt“ gewesen. „Nur bei Angriffen oder bei schwerer Trunkenheit durch selbstgebrannten Alkohol“ will er seinen Schlagstock eingesetzt haben.
Ein früherer Gefangener erzählt: Aus Langeweile habe er sich mit einem Zellennachbar durch das Gitterfenster unterhalten. Hinter seinem Rücken soll sich der Wärter V. geräuschlos in die Zelle geschlichen haben. „Dann zog er mir den Schlagstock ohne Warnung über die Schulter.“ Vielleicht, meint der Zeuge, weil es ein Sonntagnachmittag war. Da sei die Prügellaune am größten gewesen.
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