Man spricht deutsch

In Namibia ist es deutscher als in manchem Schwarzwald-Kaff  ■ Von Holger Jenrich

Namibia ist eines der charmantesten und eines der merkwürdigsten Länder der Erde. Mitten in Afrika heißen die Orte „Maltahöhe“ oder „Lüderitz“, die Bewohner „Kuhlmann“ oder „Breitenstein“. Auf den Straßen gibt es Narrenkappen zu sehen und in der Zeitung Otto von Habsburg zu lesen. Von ungefähr kommt das nicht: Die Republik im Südwesten des Kontinents ist eine krude Mischung aus Kolonialismus a.D. und Europa light.

Nirgendwo in Afrika ist es deutscher als in Namibia – und nirgendwo in Namibia ist es deutscher als in Swakopmund. Das Örtchen, mit 20.000 Einwohnern immerhin drittgrößte Stadt des Landes, versprüht den Charme eines nicht aus dem Schlaf zu erweckenden Nordseebades. Über die opulente Kaiser-Wilhelm-Straße in Richtung Strand zu flanieren, in Horlbecks Goldschmiede traditionellen Afrikaschmuck für die heimische Vitrine zu erstehen und sich am Abend im „Restaurant Bayernstübchen“ des Ehepaares Berner eine zünftige Haxe made in Africa schmecken zu lassen – das ist für die jährlichen 20.000 deutschen Namibia-Touristen eine Selbstverständlichkeit.

Swakopmund ist eine teutonische Unglaublichkeit inmitten der afrikanischen Wüste. Eine Stadt, deren Bewohner zu mehr als einem Drittel deutscher Abstammung sind. Eine Stadt, zu deren 100. Geburtstag 1992 der Männergesangverein „Üb immer Treu und Redlichkeit“ vorgetragen hat. Eine Stadt, die mit alten Zollabfertigungsschildern an einen deutschen Kaiser gemahnt und gelegentlich mit Hakenkreuz-Flaggen an einen deutschen Führer.

„Deutsch-Südwest“ hieß das Angola, Sambia, Botswana und Südafrika benachbarte Land dereinst. Von 1894 bis 1915 war es deutsche Kolonie. Erobert wurde es, nach jahrzehntelanger Vorarbeit durch wenig zimperliche Missionare, von Franz Adolf Lüderitz. Der Bremer Kaufmann hatte Eingeborenen für wenig Geld und ein paar Gewehre wertvolles Land abgekauft. Seine „Deutsche Colonialgesellschaft Südwest-Afrika“ und sich selbst vor den übers Ohr gehauenen Namas und anderen Stämmen zu schützen, bat Lüderitz die deutsche Regierung um Hilfe. Bismarck ließ sich nicht lange bitten und tat ihm den Gefallen.

Aus dem Privatschutz für den Bremer Kaufmann wurde eine selbsternannte Schutzmacht fürs ganze Land. Schulen, Hospitäler, Kirchen, Postämter, Hotels, Kasernen, Bahnhöfe entstanden im Nu – die Eingeborenen blieben auf der Strecke. Weil ihnen ihr Leben lieb war, schlossen manche Stämme mit den neuen Machthabern spezielle Schutzverträge ab. Andere bekriegten die deutschen Herren, weil ihnen ihre urafrikanische Kultur lieb war. Sie starben zu Zehntausenden: die Bondelswarts, die „Hottentotten“ geschimpften Namas, die Hereros.

Namibia ist nach dem Abzug der letzten Kolonialmacht Südafrika vor vier Jahren Republik, die ehemalige Befreiungsbewegung SWAPO Regierungspartei geworden. Heute ist die deutsche Kolonialzeit Vergangenheit. Und mahnende Gegenwart zugleich. Hoch über der Hauptstadt Windhoek wacht noch immer eine Gestalt aus längst vergangenen Tagen über die Geschicke des Landes. Der „Reiter von Südwest“, von Adolf Kühle in Berlin konzipiert und in einer Gladbecker Eisengießerei produziert, blickt – bewaffnet und zu Pferde – seit mehr als achtzig Jahren trutzig nach Nordwest. Bevor südafrikanische Truppen 1915 der Kolonie „Deutsch- Südwestafrika“ ein Ende machten, wurden Roß und Reiter, zu Ehren von Kaiser Wilhelms Geburtstag, am 27. Januar 1912 auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt aufgestellt. Der bronzene Bursche ist Bewohnern wie Besuchern der Hauptstadt noch heute Erinnerung an deutschen Tatendrang und deutschen Ordnungssinn.

Die Hereros, zu Hunderttausenden im Krieg gegen die deutschen Besatzer umgekommen, erinnern alljährlich am 23. August in Okahandja auf ihre Weise an den Völkermord Anfang des Jahrhunderts. Die Frauen in ihren traditionellen Trachten, die Männer in Uniformen der ehemaligen deutschen „Schutztruppe“, exerzieren sie in einer Mischung aus preußischem Drill und afrikanischer Leichtigkeit durch die Straßen. Ein Fest voller Wut und Trauer, voller Mut und Stolz: Verehrung der Ahnen und Reminiszenz an ihre fast völlige Vernichtung.

Das Otjiserandu-Fest der Hereros ist im heutigen Namibia das spektakulärste „Andenken“ an die deutsche Kolonialzeit. Aber nicht das einzige. In Windhoek steht – in unmittelbarer Nachbarschaft zu Kühles Reitersmann, der bis 1990 noch das Etikett des beliebten „Windhoek Lager“-Bieres zierte – die „Alte Feste“: 1890 zum Schutz der deutschen Siedler erbaut, dient sie heute, zum Museum ausgebaut, der Erbauung deutscher Touristen. Und im Fort Namutoni, heute Rastlager des Etosha-Nationalparks, machen Kanonen und Knarren deutlich, daß hier einst keine Touristen Entspannung, sondern Polizei- und Militärkräfte den Konflikt mit den Ovambos suchten.

Die 30.000 hier ansässigen Deutschen oder Deutschstämmigen finden in Namibia, das viermal so groß ist wie die Bundesrepublik, aber mit 1,4 Millionen Einwohnern sehr spärlich besiedelt, eine komplette schwarzrotgoldene Infrastruktur vor. Deutsch ist, neben Englisch und Afrikaans, offizielle dritte Amtssprache. Die Kinder werden in der „Deutschen Höheren Privatschule“ (DHPS) in Windhoek oder der Deutschen Grundschule in Swakopmund unterrichtet. Der staatliche Rundfunksender NBC strahlt Beiträge in deutscher Sprache aus. Die Allgemeine Zeitung, einzige deutschsprachige Tageszeitung des gesamten Kontinents, beglückt 5.000 Leser allmittäglich mit Neuigkeiten aus dem Bonner Parlament, den neuen Bundesländern oder der Fußball-Bundesliga. Edel einkaufen kann der deutsche Tourist in Windhoek bei Juwelier Meyer, Pelzhaus Huber oder Uhrmacher Böck. Und auch beten kann er standesgemäß – in der 1910 erbauten neugotischen Christuskirche.

Selbst der Magen muß sich nicht umstellen. Im „Thüringer Hof“ in der 140.000-Einwohner-Metropole Windhoek, in „Kückis Pub“ in Swakopmund oder im Restaurant „Bei Franzl“ in der 5.000-Seelen- Gemeinde Lüderitz stehen Bratwurst mit Kartoffelsalat, paniertes Schweinekotelett oder Rollbraten in Sahnesauce wie selbstverständlich auf den Speisekarten. Untergebracht sind derartige Lokalitäten nicht selten in heimeligen deutschen Kolonialbauten mit Fachwerk, Erkern und den steilen roten Dächern, von denen der Schnee, der hier nicht fällt, nach dem Willen der Erbauer auf die Straßen hätte plumpsen sollen. Straßen zudem, die noch heute Uhland- oder Peter-Müller-Straße heißen, aber bald – wie die zur Independence Avenue mutierte ehemalige Kaiserstraße oder die zur Robert- Mugabe-Avenue gewendete ehemalige Leutweinstraße – mit einer Umbenennung rechnen müssen.

Dennoch: Die äußeren Bedingungen lassen zu, daß deutscher Dünkel und deutsches Brauchtum trefflich gedeihen können. Der deutsche „Sportklub Windhoek“ veranstaltet alljährlich ein Oktoberfest mit der Wahl einer Bierkönigin. Bei Faschingsumzügen in Swakopmund oder Maltahöhe, in Tsumeb oder Otjiwarongo werfen Karnevalisten Kamellen und Luftschlangen unters staunende schwarze Volk. Und auf den Farmen „Schlesien“, „Münsterland“ oder „Elisenheim“ tönt es mitunter laut von erlegten Antilopen und „faulen Hottentotten“.

Doch die Zeiten, da jeder Deutsche für einen verkappten oder offenen Rassisten gehalten werden konnte, sind vorbei. Der Farmer und Jagdführer Anton von Wietersheim beispielsweise, Vorstandsmitglied der Deutsch-Namibischen Gesellschaft, ist Parlamentsabgeordneter der SWAPO und war lange stellvertretender Minister für Handel und Industrie. Die „Interessengemeinschaft deutschsprachiger Südwester“ (IG) als Sprachrohr der deutschen Siedler macht sich im Zuge neuen Denkens für eine Politik „schwarz- weißer Partnerschaft“ stark. Manche Deutsche sind sogar „Helden“ geworden. Carl Scholz etwa, der nach der Unabhängigkeit Namibias die Rückkehr und Wiedereingliederung von 45.000 Exilanten mitorganisiert hat. Oder Peter Pauli, der in Elim, mitten im Busch des Ovambolandes nahe Angola, als evangelischer Pfarrer jahrelang gegen die Südafrikaner opponiert hat und heute, 76jährig, nirgendwo anders leben möchte als in seiner bescheidenen Behausung in der Nähe der Krals.

Alles andere als bescheiden ist hingegen die imposante Anlage, die Anfang des Jahrhunderts der deutsche Eisenbahner August Stauch in den Sand der Namib- Wüste setzte. 39.000 Karat Rohdiamanten hatte Stauch mit Hilfe geknechteter Eingeborener aus der Erde gebuddelt – und anschließend, seinen Reichtum und seinen Ruhm zu mehren, den Ort Kolmannskuppe aus dem Boden gestampft. Für ein paar Jahre wurde Kolmannskuppe zur reichsten Stadt Afrikas. Für 20.000 Menschen, die aus dem Wüstensand 20 Prozent der Weltproduktion an Diamanten herausholten, entstanden Postamt, Bäckerei, Polizeistation, Schlachterei, Schwimmbad, eine Schule, ein Theater, eine Limonadenfabrik, das modernste Krankenhaus des Landes und die teuerste Kleinbahn der Welt.

Doch der Stern der Stadt verging, als in Oranjemund und noch weiter südlich weit ergiebigere Diamantenadern entdeckt wurden. Heute ist Kolmannskuppe eine Geisterstadt in deutschem Jugendstil. Mit offenstehenden Haustüren, hinter denen sich geriffelte Sanddünen aufhäufen. Mit massiven Holztreppen, die aus dem Sand ragen, mit Schienen, die im Sand enden.

Die Wüste gebietet nun über diesen Ort mitten in Afrika, der einst deutscher war als manches Kaff im Scharzwald. Und hinter dessen sandigen Fassaden deutsche Geschichte zwischen kolonialer Ausbeutung und dem Preiskegeln des Kegelclubs „Gut Holz“ für immer lebendig bleiben wird.