Schriften zu Zeitschriften: Mystische Meister
■ Der „Jahresring“ spürt dem geheimen Wissen der Avantgarde-Kunst nach
Geheimlehren gehören nach gängiger Auffassung nicht gerade zur geistigen Substanz der klassischen Avantgarde. Statt dessen pflegt man das Bild des Künstlers im Dienste der Aufklärung, der sich freimacht von den Zwängen der Gesellschaft und ganz individuell ans autonome Werk geht. Daß sich jedoch Künstler wie Kandinsky oder Mondrian, Marc oder Klee intensiv mit Mystik, Theosophie und anderen okkulten Geistereien auseinandergesetzt haben, wurde und wird aus naheliegenden Gründen verdrängt: „Man konnte die Opfer nationalsozialistischer und stalinistischer Kulturpolitik nicht rehabilitieren, während man sie zugleich des Obskurantismus verdächtigte. Die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit verdrängte die esoterische Seite der Avantgarde, und dort, wo sie nicht wegzuleugnen war, galt sie als Kinderkrankheit von Genies.“ Dies schreibt der Kunsthistoriker Beat Wyss in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen „Jahresring“-Band über die „Geheimlehren der Moderne“. Wir steigen hinab ins Okkulte, in aufklärerischer Absicht.
Wyss fragt nach der Bettlektüre der Künstler, nach dem Bücherhimmel, der sich über der Moderne wölbt. Was wurde gelesen? Eines jedenfalls nicht: kunsthistorische Bücher! Statt dessen Naturwissenschaft, Philosophie, Mystik. Und Wyss stellt fest, daß das Neue in der Kunst „immer parallel zu umwälzenden Erkenntnissen in der Weltanschauung“ sich entwickele: „Der Impressionismus hat als Äquivalent Entdeckungen der Wahrnehmungstheorie; die Abstraktion Entdeckungen der Atomphysik; Pop-art die Entdeckung der Kommunikationswissenschaft.“ Der Anspruch der Künstler reichte freilich weiter als zu einer bloßen Illustration zeitgleicher Phänomene. Kandinsky, der eifrig die Theosophie studierte, malte nach den ersten Fotografien von Röntgenstrahlen; man interessierte sich für neuplatonische Spekulationen ebenso wie für Dr. Charcots Experimente mit Hysterikerinnen in Trance. Das wäre alles nicht weiter tragisch gewesen, wenn nicht mit den Vorstellungen vom „großen Geistigen“ (Kandinsky) in der Kunst auch Heilsversprechungen einhergegangen wären – bis hin zu Visionen eines „Dritten Reiches“, denen vor 1933 nicht nur die Faschisten nachhingen.
Der Band enthält außer kunsthistorischen Untersuchungen über das Beziehungsgeflecht zwischen geistiger Unter- und Überwelt auch eine ergiebige Textsammlung, in der von Lautréamont und Flaubert über Nietzsche und Eliphas Lévi bis zu den Surrealisten Beispiele einer Verbindung von Kunst und Magie präsentiert werden. Am Ende stehen Beiträge, die die Situation „Nach der Postmoderne“ beleuchten, unter anderem von Boris Groys (über die lebenden Toten: Avantgarde im Museum), Philomene Magers (über die Loge PC: political correctness) und dem unvermeidlichen Medientheoretiker Friedrich Kittler. Der hat einen zeitgenössischen Okkultismus in der „Binären Gnosis“ gefunden, und zwar im Inneren des Datennetzes, in den Programmen.
Als „endloses On/Off“, Null/ Eins, Ja/Nein zeugt das digitale Zeitalter seine Geheimlehren in und durch Programmiersprachen, in welchen „der Alphabetismus unserer Kultur zu einer Schrift [implodiert], die alle Züge eines Geheimcodes hat, weil nicht Leute, sondern Computer sie lesen können müssen.“ Und weil nicht mehr für Leser geschrieben wird, die immerhin mit einer gewissen „Fehlertoleranz“ ausgestattet sind, sondern für Maschinen, denen man jene erst mühsam und durch neue Programme beibringen muß, ergibt sich zwangsläufig eine „neue Scholastik der Computercodes“, die den „ältesten Buchstabengehorsam“ wieder einfordert. „Während moderne Menschen (nach Nietzsches bösem Wort) unter dem, was geschrieben steht, so ziemlich alles verstehen dürfen, nur damit Schulen, Universitäten und Kongresse nicht arbeitslos werden, läuft jeder Lehrgang für Programmierer darauf hinaus, absolut willkürliche Zuordnungen von Buchstaben zu Zahlen auswendig zu lernen, nur damit das System nicht abstürzt.“
Was uns hoffen läßt. Darauf, daß die Interpretation der Postmoderne gottlob noch auf absehbare Zeit von den Universitäten, Kongressen etc. zu leisten sein wird, jenen wissenschaftlichen Séancen der Risikogesellschaft, die schließlich auch an ihren Geheimlehren weiterarbeitet, um eines zu verhindern: daß ihr System abstürzt. Thomas Fechner-Smarsly
„Mythologie der Aufklärung – Geheimlehren der Moderne“. Jahresring 40. Jahrbuch für moderne Kunst. Verlag Silke Schreiber, 216 Seiten, 70 Abbildungen, 38 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen