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Bis zum Krieg war sie ein Zentrum des intellektuellen Lebens in Südosteuropa. 1992 wurde die Bibliothek von Sarajevo durch serbische Artillerie in Brand gesetzt. Ihr Wiederaufbau wäre lebendiges Symbol der Verteidigung des Multikulturellen. Von Claus Leggewie

Das kollektive Gedächtnis Bosniens

Hier ungefähr muß die Marmorbüste von Marschall Tito gestanden haben, genau in der Mitte des runden Foyers. Heute knirschen im alten Rathaus von Sarajevo Glassplitter, Mörtel und Bücherasche unter den Schuhen. Verbrannte Regalböden und bizarr verzogene Stahlträger ragen hervor, in den Wänden klaffen große Einschlußlöcher.

Die Vijecnica, National- und Universitätsbibliothek von Sarajevo, ist nur noch ein hohler Trümmerhaufen. Wo einst die blaue Glaskuppel war, graut jetzt der Schneehimmel über der bosnischen Hauptstadt. Auf den gegenüberliegenden Hügeln stand bis vor kurzem die schwere Artillerie, die die Bibliothek in der Nacht auf den 24. August 1992 in Schutt und Asche legte und damit, ganz gezielt, das Symbol des multikulturellen Sarajevo zerstörte. Die herausragende Bedeutung der National- und Universitätsbibliothek (NUB) ist rasch mit ein paar Namen und Zahlen verdeutlicht: 1945 im alten Rathaus der Stadt als Zentralbücherei der Muslime, Serben, Kroaten und Juden Bosnien-Herzegowinas gegründet, war sie ein reicher Fundus südslawischer Literatur und Wissenschaft, eine Schatzkammer mit unersetzlichen Handschriften und wertvollen Inkunabeln, auch sephardischer, arabischer, türkischer und persischer Herkunft, dazu eine profunde Quellensammlung der osmanischen Periode, der k. u. k. Monarchie und des „ersten Jugoslawien“. Insgesamt waren dort etwa eineinhalb Millionen Bücher und 6.000 Periodika verfügbar – ein Zentrum des intellektuellen Lebens in Südosteuropa. Nach ihrer Modernisierung vor dem Krieg war sie auf hohem bibliothekarisch-technischem Stand und kooperierte weltweit mit zweihundertundfünfzig vergleichbaren Instituten.

Ohne Übertreibung kann man die NUB als das kollektive schriftliche Gedächtnis Bosnien-Herzegowinas bezeichnen, neben anderen Bibliotheken des Landes, die ebenso dem Krieg zum Opfer gefallen sind, zum Beispiel das Orientalische Museum in Sarajevo. Sie waren systematisch dem Beschuß der Serben ausgesetzt, die hier nur die „Barbaren auf den Bergen“ geschimpft werden, ging und geht es den Angreifern doch nicht nur um „ethnische Säuberung“, sondern auch um die Vernichtung der kulturellen Substanz des über Jahrhunderte gewachsenen, zerbrechlichen Vielvölkergemischs. Wer in der Bibliothek von Sarajevo Feuer legt, zielt auf das Herz des freien Bosnien. Er attackiert sowohl das türkische Erbe wie die deutsch-österreichische Tradition, die im serbischen Verständnis Perioden schmachvoller Fremdherrschaft waren. Von den ersten Kriegstagen an war die NUB schwerem Beschuß ausgesetzt; Appelle, die Bücher bombensicher wegzuschließen, verhallten ungehört, so wie bei vielen Kunst- und Bücherschätzen des ehemaligen Jugoslawien.

Optimisten in Sarajevo behaupten, daß die Hälfte der Bestände gerettet werden konnte; realistischer sind wohl die Schätzungen der Unesco: Danach sind vier Fünftel unwiederbringlich dahin, nämlich alles, was sich im österreichischen Lesesaal, im britischen Studienzentrum, im Computersaal, in der musikalischen Sammlung und in der Präsenzbibliothek befunden hatte. Es ist schwer zu ergründen, was in der Brandnacht von waghalsigen Bücherenthuasiasten in Sicherheit gebracht werden konnte. Bewohner anliegender Häuser behaupten: nichts. Josip Pejakovic aber, ein bereits im alten Jugoslawien höchst populärer Schauspieler, bis vor kurzem als Beauftragter für die Rettung der bosnischen Kulturgüter tätig, preist eine Gruppe junger „Retter“ um einen gewissen Nihad Cengil. Bibliothekare, Passanten und Feuerwehrleute hätten im Hagel der Granat- und Flammenwerfer Bücher in Lastkraftwagen verladen und fortgeschafft. Das wirft die in Sarajevo ebenso schwer zu klärende Frage auf, wo diese und bereits früher in gesonderten Depots verwahrte Glanzstücke abgeblieben sind.

Wenn man sich in der Alten Synagoge anschaut, wie notdürftig deren gerettete Bestände unter den Bedingungen des andauernden Krieges verwahrt werden, befallen einen schlimme Ahnungen. Man munkelt auch, daß von der Soldateska und der Mafia aller Lager, womöglich mit Duldung der Regierung, Bücher konfisziert, geraubt und auf dem schwarzen Markt verhökert worden sind. Die besonders wertvolle Hagada, ein ursprünglich aus dem spanischen Saragossa stammendes, besonders prächtiges Exemplar der zum Passahfest erzählten Geschichte von der Befreiung der Juden aus dem ägyptischen Exil, entstanden in der Mitte des vierzehnten Jahrhunderts, soll jedenfalls angeblich im Keller der Nationalbank sicher verwahrt sein.

Die Bibliothek von Sarajevo soll so bald wie möglich wiederaufgebaut werden. Das betrifft weniger das in den 1890er Jahren im Alhambra-Stil erbaute Gebäude (siehe das Foto auf Seite 1), Kopie eines Kairoer Wohnhauses, in dem jeder Raum unterschiedlich geschnitten und gestaltet war. Schon vor dem Krieg war ein moderner Neubau in der Nähe der Universität geplant, während die Vijecnica wieder als Rathaus eingerichtet werden sollte. Wollte man das Gebäude retten, müßte es schleunigst umhüllt werden (ein lohnendes Projekt für Christo!?). Denkbar wäre auch, das alte Wahrzeichen Sarajevos wie die Berliner Gedächtniskirche oder das Mahnmal in Hiroshima als Ruine stehen zu lassen, als Denkmal des Terrors gegen die multikulturelle Metropole. Architekten in Bosnien und im Ausland stehen bereit für die Restaurierung oder einen Neubau, und viele in Sarajevo hoffen, daß ein entsprechender Auftrag nicht an den bekannten einheimischen Architekten Ivan Strauß vergeben wird, der die häßliche Hypermoderne der Sarajevoer Neustadt verantwortet.

Vordringlich ist es jetzt, trotz und noch während der anhaltenden Belagerung Sarajevos, die Bücher wiederzubeschaffen, und zwar als gesamteuropäische Aufgabe. Dazu haben sich die Unesco in Paris, eine Stiftung am Institut für Informationswissenschaft (IZUM) im slowenischen Maribor sowie zahlreiche Bibliotheken, Bürgerinitiativen und Privatleute von Washington über Prag und Warschau bis nach Sankt Petersburg entschlossen. Ihr Ziel ist es, Sponsoren zu finden, eine professionelle Logistik sowohl für die Neuanschaffungen wie für den Transfer der Bücher ins befreite Sarajevo zu schaffen und die künftige Bibliothek – zum Beispiel mit Hilfe eines On-line-Services – technisch auf den neuesten Stand zu bringen.

Der Wiederaufbau der Bibliothek von Sarajevo könnte so eine ähnliche symbolische und praktische Bedeutung erlangen wie die Restauration der Bibliothek von Löwen, die die Deutschen im Ersten Weltkrieg zerstört hatten. Auf einen solchen Friedensvertrag, der die Wiederherstellung ausdrücklich zu den deutschen Reparationsleistungen zählte, darf man freilich nicht warten, auch wenn manche in Sarajevo behaupten, die Namen derjenigen zu kennen, die den Brandbefehl gegeben haben, und die sie irgendwann als Kulturschänder vor Gericht zitieren wollen.

Sarajevos Kulturleben ist niemals, auch nicht in den schlimmsten Zeiten, zum Erliegen gekommen. Der Wiederaufbau der Bibliothek ist ein durchaus populäres Thema. Dazu muß sich an Ort und Stelle eine handlungsfähige und zuverlässige Equipe bilden. Der bisherige, allgemein geschätzte Bibliotheksdirektor, Professor Borivoje Pistalo, ist als Oppositionspolitiker nach Maribor gegangen und gilt bei der bosnischen Regierung seither als Persona non grata. Sein im Juni 1993 ernannter Nachfolger, der Literaturhistoriker Enes Kujundzic, bemüht sich, den Wiederaufbau mit der Unesco zu organisieren.

Auch am Fall der Bibliothek wird sich zeigen, ob in Sarajevo die bisherige Linie eines streitbaren Multikulturalismus obsiegt oder ob sich die Illusion eines stärker muslimisch geprägten Staates durchsetzt, mit der die wenigsten Intellektuellen, Akademiker und Bücherfreunde der Stadt einverstanden sind.

Eine Frage wird an die Büchernarren immer wieder gestellt: Gibt es denn, wo in Sarajevo weder regelmäßig Strom und Wasser noch ausreichend erschwingliche Lebensmittel verfügbar sind, nichts Wichtigeres zu tun, als Bücher zu sammeln? Wer sich ein paar Tage in Sarajevo aufgehalten hat, bekommt überall dieselbe Antwort: Wir haben, was an Büchern noch vorhanden ist, nach Beginn der Ausgangssperre bei schwachem Kerzenlicht und selbst unter dem Beschuß der Granatwerfer dreimal ausgelesen. Wir brauchen dringend neue Bücher – und wir brauchen sie von euch.

Sarajevo muß seine Bibliothek wiederbekommen: Als Ort des Lernens und Studierens, als Gedächtnis seiner bewegten Geschichte, als lebendiges Symbol des verteidigten Multikulturalismus. Lissabon oder Antwerpen oder Weimar in Ehren. Aber Sarajevo ist die Kulturhauptstadt Europas – oder Europa ist nicht.

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