Ein hartnäckiger Typ

■ Gesichter der Großstadt: Michael S. Cullen schrieb vor 23 Jahren eine Karte an Christo, mit der er die Verpackung des Reichstags anregte / Berlin als zweite Heimat

1971 hatte der Amerikaner Michael S. Cullen einen Traum. Warum, so fragte er sich, sollte es nicht möglich sein, den Reichstag in Berlin zu verhüllen? Er nahm eine Postkarte und skizzierte seinen Traum. Wenig später erreichte sie den bulgarischen Verpackungskünstler Christo. Was diese wenigen Zeilen auslösten, sollte die deutsche Öffentlichkeit 23 Jahre lang beschäftigen.

Erst im Februar dieses Jahres stimmte der Bundestag der Verpackung des Reichstags zu. In der vorangegangenen Debatte war allerhand Tiefsinniges bemüht, von Nationalem und Kunst geredet worden. Als Michael S. Cullen 1971 seine Karte an Christo schrieb, war er fern solcher Gedanken. Es sei damals eine „wirklich spontane Idee“ gewesen, erst viel später habe auch er sich dem theoretischen Beiwerk zugewandt.

Berlin ist Cullens Wahlheimat seit Juni 1964, als er zum ersten Mal die Stadt besuchte und sich als Englischlehrer niederließ. Kurze Zeit später mußte er wieder zurück in die USA, um den Militärdienst zu absolvieren. 1967 kehrte er in die Stadt zurück, jenem „Fleckchen Erde, wo es sich gut leben läßt“. Er mischte mit im Kulturleben, gründete eine Galerie namens „Mikro“, die er bis 1978 betrieb.

Als Jude habe ihn das Land der Täter weit mehr gereizt als jeder andere Staat in Europa, sagt der heute 54jährige im Rückblick. Diese „Spannung“, wie er es nennt, ließ ihn bis heute nicht los. Oder, mit den Worten von Cullen gesprochen: „Die Antworten, nach denen ich suche, haben wenigstens nicht dazu geführt, mich von dieser Stadt, diesem Land abzuwenden.“

Als er Anfang der sechziger Jahre zum ersten Mal nach Deutschland kam, um in München beim US-Sender „Radio Liberty“ ein Praktikum zu absolvieren, hätte er jeden Tag einen Artikel über eine deutsche Eigenart schreiben können: etwa, wenn er bei Rot über die Straße ging und die Passanten über den lässigen Amerikaner schimpften. Vieles habe sich seit dieser Zeit verändert, nicht zuletzt durch 1968. An den studentischen Protesten nahm er anfänglich teil, demonstrierte gegen den Vietnamkrieg der USA. Doch als immer mehr Plakate von Ho Chi Minh oder Walter Ulbricht auftauchten, wandte er sich ab. „Das war nicht das, wofür ich einstehen konnte“, meint er.

An der Freien Universität, wo er ein Studium der Politologie aufgenommen hatte, ging ihm der autoritäre Diskussionsstil der rebellierenden Studenten gegen den Strich. „Ich habe große Sympathien für die Leute gehabt, die gegen die Professoren waren, aber niemals für ihre Mittel.“

Bitter erinnert er sich an Diskussionen, in denen Professoren niedergebrüllt wurden. Seinen Abstecher an die Freie Universität beendete er enttäuscht. Nicht zuletzt, weil er lernen wollte, die Bibliotheken aber „ständig besetzt waren“, wie er ironisch anmerkt. In Deutschland, sagt Cullen, gebe es bis heute eine Tendenz zu den Extremen. Noch heute kann sich Cullen über die Argumentation des CDU-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble aufregen, der Christos Verpackung des Reichstags mit dem Verweis auf nationale Symbolik abgelehnt hatte. Der Akt der Verhüllung, sagt Cullen, sei stets ein „Zeichen von tiefreichendem Respekt, von Pietät“ gewesen und verweist auf die Tradition, den Körper eines Toten mit einem Laken zu bedecken.

Der Reichstag, über den er selbst 1983 ein Buch geschrieben hat, ist für ihn ein Ort des „Guten und Bösen“. Ein Ort, an dem die Geschichte ihr Spiel spielte. Eines der „schönsten Dinge“, die in diesem Haus stattfanden, sei die Verabschiedung des Bürgerlichen Gesetzbuches gewesen. Das sagt einer, der in New York in bürgerlichen Verhältnissen aufwuchs und schon mit sieben Jahren Klavier spielen lernte.

In zahlreichen Büchern und Artikeln hat sich Cullen mit der Architektur Berlins auseinandergesetzt. Daneben arbeitet er als Fernsehautor, drehte jüngst über das hiesige US-Document-Center, in dem die Akten der Nazizeit archiviert werden. Und natürlich über den Reichstag. In seiner weiträumigen Charlottenburger Wohnung lagern rund 8.000 Bücher, darunter einige Raritäten. In unmittelbarer Nähe befinden sich zwei Buchläden. Für ihn eine ständie Versuchung, „die Hölle“, wie er es nennt. Mit dem Fotografen Wolfgang Volz publizierte er 1984 im Suhrkamp-Verlag ein Buch, das offen für Christos Projekt am Reichstag warb. Volz ist mittlerweile Christos deutscher Projektmanager. „Er ist sicherlich besser im Organisieren und Verwalten als ich“, sagt Cullen, der sich selbst „Hartnäckigkeit“ attestiert. Nach den Jahren, in denen er für Christos Projekt warb, sei nunmehr für ihn die „Zeit des Festhaltens, der Analyse“ gekommen. Für die Zukunft hat sich Cullen einen großen Wunsch aufbewahrt: ein Buch über Beethoven zu schreiben. Von allen Komponisten sei er der „unzugänglichste“. Einer, „der am ehesten meiner Seele entspricht“. In der Auseinandersetzung mit dem Komponisten erhoffe er sich „Erkenntnisse über sich selbst sowie über Deutschland und die Deutschen“. Severin Weiland