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Fünf Mark für einen guten Charakter Von Ralf Sotscheck

John Major will offenbar als vielseitigster Versager des Jahrhunderts in die Geschichte eingehen: Scheinbar mühelos gelingt es ihm, nun auch mit einer an und für sich unproblematischen Gedenkfeier eine Regierungskrise auszulösen. Am 6. Juni jährt sich der „D-Day“ – der Tag, an dem die alliierten Truppen in der Normandie gelandet sind – zum fünfzigsten Mal. Major verordnete aus diesem Anlaß Straßenparties samt Kochwettbewerben mit Kriegsrationen und der Wahl einer betagten „Miß 1944“, während die Kleinen an den Stränden der englischen Seebäder die Invasion nachspielen können. Höhepunkt soll ein Fest für 300.000 Menschen im Londoner Hydepark werden. Unglücklicherweise haben die Hauptdarsteller ihre Teilnahme bereits abgesagt: Die Kriegsveteranen ärgern sich über den Versuch, den Gedenktag für ihre toten Kollegen in ein Gelage umzufunktionieren. Ludovic Kennedy, Schriftsteller und D-Day-Veteran, fragte: „Kann man sich denn vorstellen, daß sich die Menschen komische Hüte aufsetzen und auf den Straßen tanzen?“

Nicht nur die Veteranen, sondern auch die Oppositionsparteien hegen den Verdacht, daß Major mit dem dekretierten Jubel die Moral im Volke anheben will, um das befürchtete Tory-Debakel bei den Europawahlen drei Tage später etwas abzumildern. Ian Sproat, der Staatssekretär im Ministerium für kulturelles Erbe, tat das als „kompletten Unsinn“ ab: „Wir haben das Datum der Invasion nicht gewählt“, sagte er. Ein Sprecher des Fremdenverkehrsamtes, das landesweit Schulkantinen im Stil der vierziger Jahre organisieren soll, sagte jedoch: „Sproat glaubt, er könne mit Hilfe dieses Rummels die Karriereleiter hinaufhuschen.“

Der ehrgeizige Staatssekretär hat inzwischen schon ein neues Fettnäpfchen aufgetan, in das der Premierminister hineingetappt ist: den Sport. Er hat Major einen 30seitigen Bericht zukommen lassen, den dieser zwar noch nicht gelesen habe, ihm jedoch voll und ganz zustimme, wie Downing Street bekanntgab. Es geht dabei um den Konkurrenzkampf im Schulsport, der gestärkt werden soll. Fußball, Hockey Rugby, Netzball und Cricket sollen zu Pflichtfächern werden – aber nicht nur für die SchülerInnen, sondern auch für das Lehrpersonal. Die Religionslehrerin muß dann ebenso wie der Kunstlehrer zwei dieser Sportarten unterrichten, wenn Major seinen Willen bekommt. Irgendwann, so hofft er, ist mit den ständigen Demütigungen Schluß. Möglicherweise kann man ja sogar einmal gegen Westindien im Cricket, dem englischen Nationalsport, gewinnen. Die erneute Niederlage gegen die ehemalige Kolonie vor 14 Tagen hat dem Nationalstolz einen argen Dämpfer verpaßt. Gewerkschaftssprecher Nigel de Gruchy geht es dagegen eher ums Geld: „Wenn man den Lehrern eine angemessene zusätzliche Bezahlung anbieten würde, so könnte ich mir vorstellen, daß man eine Schlange von Bewerbern hätte, die solang wie ein Arm ist.“ Metaphern gehören offenbar nicht zu de Gruchys Stärken, denn selbst wenn er Affenarme hätte, wäre die Schlange nicht länger als drei oder vier Personen. Doch mit der Bezahlung hat er recht: Die Lehrkräfte sollen für den zusätzlichen Unterricht umgerechnet fünf Mark in der Stunde erhalten. Aber vielleicht dient das ja ihrer Charakterbildung.

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