: Japan: „Noch fünfzehn Jahre Chaos“
Inmitten allgemeiner Skepsis wurde gestern Tsutomo Hata Japans neuer Premier / Interview mit dem Politologen Morita über den Generationskonflikt hinter Japans Dauerkrise ■ Aus Tokio Georg Blume
Von der Aufbruchstimmung, die noch vor acht Monaten bei der Wahl des bisherigen japanischen Premierministers Morihiro Hosokawa herrschte, war gestern bei der Bestimmung seines Nachfolgers Tsutomu Hata wenig zu spüren. Zwar bekam Hata im Tokioter Unterhaus mit 274 von 502 abgegebenen Stimmen ähnlich große Unterstützung wie sein Vorgänger, doch Skepsis und zurückgeschraubte Erwartungen charakterisieren eine verunsicherte japanische Nation. Dennoch machte die Reorganisation der japanischen Parteienlandschaft gestern einen großen Schritt nach vorn: Insgesamt sechs Parteien, von denen zwei erst in der vergangenen Woche gegründet wurden, schlossen sich mit zwei unabhängigen Parlamentariergruppen zu einer neuen Fraktion unter dem Namen „Neue Reform“ zusammen. Die neue Fraktion, deren Abgeordnete alle für Hata stimmten, verfügt mit 187 Mitgliedern über fast soviel Abgeordnete wie die oppositionellen Liberaldemokraten mit 207 Mandaten.
Minoru Morita, einer der einflußreichsten Politologen Japans, erkennt freilich auch unter den neuen Vorzeichen keine klaren ideologischen oder parteipolitischen Grenzen. Anders als der neue Premierminister Hata – der gestern bereits vor dem Untergang Japans warnte – dramatisert Morita die Krise nicht übermäßig.
taz: Nach zwei Wochen politischem Chaos hat das japanische Parlament Außenminister Hata zum Nachfolger von Premier Hosokawa gewählt. Ist die politische Krise in Tokio damit beigelegt?
Minoru Morita: Hata ist ein in Japan einzigartiger Politiker, denn er ist ein Durchschnittsmensch mit viel „common sense“. Doch besitzt er weder die Kraft noch die Persönlichkeit, die notwendigen politischen Entscheidungen zu erzwingen. Das gegenwärtige Chaos ist freilich eine historische Notwendigkeit. Japan hat eine sehr stabile Nachkriegszeit erlebt, in der sich ein festgefügtes Herrschaftssystem entwickelte, das von der Liberaldemokratischen Partei (LDP), den Tokioter Bürokraten und der Wirtschaft gestützt wurde. Dieses „Eiserne Dreieck“ ist nun zerfallen. Ein Grund dafür ist, daß das alte gesellschaftliche Ziel, den Westen wirtschaftlich einzuholen, über die Jahre bedeutungslos geworden ist. Mit dem Machtverlust der LDP im vergangenen Jahr büßten die Unternehmer schließlich auch ihren politischen Einfluß ein. Hinzu kommt, daß es noch keine neue politische Macht gibt, die allein die LDP ersetzen kann. Es wird deshalb mindestens einige Jahre – bis zu 15 Jahre – in Anspruch nehmen, bis die Stabilität zurückkehrt und die Gesellschaft ein neues Ziel gefunden hat. Bis dahin müssen wir uns mit dem Chaos abfinden.
Wieviel Neuanfang sehen Sie in dem Chaos?
Im vergangenen August mußten sich alle Parteien bis auf die LDP und die Kommunisten zusammenschließen, um den Regierungswechsel durchzusetzen. Die Hosokawa-Regierung war dementsprechend schwach. Dennoch nahm mit Hosokawa, der 1938 geboren ist, eine neue politische Generation das Heft in die Hand. Ihr gehören auch der neue Premier Tsutomu Hata und sein politischer Drahtzieher Ichiro Ozawa an. Der Rückschlag, der damit für die alte Generation erfolgte, hat die politische Landschaft von Grund auf verändert.
Weshalb empfinden Sie den Generationskonflikt in der japanischen Politik als entscheidend?
Es geht darum, wie man Japan 50 Jahre nach Kriegsende einschätzt. Die Älteren, die den Krieg bewußt erlebten, gehen davon aus, daß sie das Land aus den Trümmern zur Wirtschaftsmacht wiederaufgebaut haben. Sie sind deshalb stolz auf diese Gesellschaft. Die Politiker der neuen Generation hingegen kritisieren das Land. Sie erkennen eine Identitätskrise der Gesellschaft und glauben, daß das kulturelle und seelische Erbe Japans im Prozeß der wirtschaftlichen Entwicklung verlorengegangen ist.
„Langfristige Ziele kümmern die wenigsten“
Warum ist Hosokawa, der für die meisten jungen Japaner ein Hoffnungsträger war, an diesem Konflikt gescheitert?
Hosokawa wurde mit den Methoden der alten Generation gestürzt. Die LDP-Führung hatte seine Skandale sorgfältig recherchiert. Über alte Verbindungen gelang es der LDP, die Medien für die Berichterstattung gegen Hosokawa zu instrumentalisieren. Danach thematisierte sie den Skandal im Parlament und legte alle anderen Beratungen lahm. Wäre es um die Sache gegangen, hätten Hosokawas mangelhafte, aber nicht gravierende Finanzgebaren nie zum Rücktritt gereicht.
Inwiefern läßt sich der Generationsstreit politisch einordnen? Lassen sich darin linke und rechte Positionen noch wiederfinden?
Die japanische Politik funktioniert traditionell nicht nach klaren ideologischen Unterscheidungen. Emotionale und persönliche Verbindungen sind die wichtigsten Ordnungselemente. Langfristige Ziele kümmern die wenigsten.
In Europa beobachtet man derzeit in vielen Ländern einen Rechtsruck. Sehen Sie derzeit für Japan ähnliche Gefahren?
Japan hat in den letzten 50 Jahren eine Ideologie nach der anderen verworfen. Die Rechten besaßen vor dem Krieg noch eine eigene Weltanschauung, aber seit dem Krieg nicht mehr. Heute kann niemand mehr zwischen den antisozialen und gewalttätigen Yakuza-Gangster-Organisationen und den Rechten unterscheiden. Ich sehe deshalb keine Gefahr, daß rechte Organisationen bei den Bürgern Unterstützung finden.
Dennoch diskutiert man auch in Japan die Frage, ob sich die Geschichte wiederholen kann. Besonders häufig fällt der Vergleich mit den dreißiger Jahren, als die Parteien nach zahlreichen Regierungskrisen kampflos das Heft an die Generäle übergaben.
Die Ähnlichkeiten zwischen heute und den dreißiger Jahren liegen nicht beim rechten Terrorismus, sondern darin, daß die politische Zentralmacht ihre Koordinierungskraft verloren hat. Dadurch kann ein Loch mitten in der Regierung entstehen.
Sehen Sie die demokratischen Errungenschaften der letzten Jahre, wie etwa die Beteiligung der Frauen an der Politik, in Gefahr?
Wenn es stimmt, daß das politische Chaos mit dem Generationskonflikt zu tun hat, dann werden die Älteren, welche die Demokratie nie verinnerlicht haben, irgendwann verschwinden, und damit wird auch die japanische Politik wieder ruhiger werden.
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