: Sachsen auf der Schwelle zum Polizeistaat
Im Freistaat geht heute „das schärfste Polizeigesetz der Republik“ über die Landtags-Bühne / Datenschützer hält es für verfassungswidrig / Finaler Todesschuß künftig erlaubt ■ Von Detlef Krell
Dresden (taz) – Im sächsischen Landtag werden heute die Fetzen fliegen. „Der Zweck heiligt nicht die Mittel“, warnt der Datenschutzbeauftragte des Freistaates in seinem neuesten Tätigkeitsbericht vor dem zur Debatte stehenden Gesetz. Ungeachtet der geharnischten Kritik der Oppositionsparteien, der Bedenken des Datenschützers, ja sogar der Landtagsjuristen, will die CDU-Fraktion die im Januar von der Staatsregierung eingebrachte Novellierung des Polizeigesetzes mit ihrer absoluten Mehrheit durchboxen. Auf diese Tour bekomme Sachsen das „schärfste Polizeigesetz der Bundesrepublik“, weiß der SPD-Innenexperte Christian Preißler. Mit dem „Beispielcharakter“ des novellierten Gesetzes brüstet sich CDU-Innenpolitiker Bandmann. Der bündnisgrüne Bundestagsabgeordnete Werner Schulz erkennt in dem Gesetz einen „sächsischen Feldversuch“ für das von CDU- Bundesfraktionschef Schäuble vorgelegte „Konzept zur Inneren Sicherheit“. Thomas Giesen, Datenschutzbeauftragter des Landes, bewertet das neue Gesetz als „verfassungswidrig“.
Geht das Gesetz heute wie geplant über die Parlamentsbühne, dann liegt für die Polizei ab sofort die Schwelle zum Spitzeln und zum gezielten Todesschuß beispiellos niedrig. Sie darf „mit besonderen Mitteln“ Daten erheben, wozu der Einsatz von verdeckten Ermittlern sowie Video und Tonband gehören. Eine solche „Erhebung darf auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden“. Voraussetzung ist, daß „Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß [die bespitzelten Personen] Straftaten begehen werden oder daß von ihnen sonstige erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit ausgehen“ (Paragraph 38). Der „Einsatz besonderer Mittel“ kann auch durch einen „beauftragten Beamten“ bestimmt werden, also praktisch durch jeden Polizisten (Paragraph 39). Das elektronische Ohr des Staates darf „zur Abwehr einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr“ in Wohnungen eindringen (Paragraph 40).
Sachsen prescht nicht mit den einzelnen Paragraphen vor, sondern mit einzigartigen Kombinationsmöglichkeiten. So ist es möglich, Daten zu erspitzeln, zu sammeln und zu verwerten, wenn es die Erfüllung polizeilicher Aufgaben erfordert und solange das zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten erforderlich ist (Paragraph 43). Videos, die etwa bei einer Demo unter dem Verdacht angefertigt wurden, dort könnte eine „Straftat“ begangen werden, dürfen auch dann verwendet werden, wenn Ordnungswidrigkeiten geahndet werden sollen (38). Da kann jeder Sprayer, der sein Zeichen auf eine Wand setzt, seinen Stammplatz im Polizeicomputer finden. Wenn er dann an einer Demo teilnimmt, wird er wieder gefilmt, als unbeteiligter Dritter. Und so wird sein „Vorgang“ immer dicker.
Datenschützer Giesen warnt vor der „Tendenz, polizeiliche und geheimdienstliche Aufgaben oder gar Befugnisse zu vermischen“. Der Entwurf zähle den Schutz der freiheitlich-demokratischen Ordnung zu den polizeilichen Aufgaben. Dies sei jedoch weniger Aufgabe als Zweck polizeilichen Handelns. Ansonsten bestünde Kongruenz mit den Aufgaben des Verfassungsschutzes. Gegen den Cocktail aus Polizei und Geheimdienst wollen Bündnis 90/Grüne und SPD klagen. CDU-Fraktionschef Herbert Goliasch mußte immerhin schon gestehen, daß man mit dem Gesetz „bewußt in einen Grenzbereich hineingegangen“ sei. Die Polizei darf nicht nur spitzeln, sondern knallhart durchgreifen. Die Spitzenzeit für den Vorbeugegewahrsam soll von vier auf 14 Tage erhöht werden (Paragraph 22), und der finale Todesschuß darf abgefeuert werden.
Dieser zur gesetzlichen Regel erhobene Ausnahmezustand wird durch die Realität im Lande überhaupt nicht begründet. Mehr als 70 Prozent der Straftaten in Sachsen sind Diebstähle. Betrug und vorsätzliche leichte Körperverletzung füllen neben Diebstahl die Kriminalstatistik auf 90,5 Prozent der Straftaten. Organisierte Banden sind ebenfalls vorwiegend auf Diebesgut, meist Autos, aus. Mit dem im Bundesvergleich überdurchschnittlich hohen Anteil von Diebstählen an den Straftaten erklärt Innenminister Heinz Eggert (CDU) die mit 35 Prozent relativ geringe Aufklärungsquote. Daran wird das CDU-Gesetz nichts ändern. Die BürgerInnen werden weiter nach Polizeibeamten suchen müssen, die auf der Straße sind statt in Amtsstuben oder hinter der Videokamera. „Keinesfalls“ dürfe nach Ansicht des Datenschutzbeauftragten „die Verunsicherung der Bevölkerung durch alltägliche Massenkriminalität dazu führen, den Begriff des Organisierten Verbrechens zu verschleißen und ihn auf jede Absprache von Tätern im Sinne der Bandenkriminalität anzuwenden.“
Er gibt den Rat, von „organisierter Kriminalität“ nur dann zu sprechen, wenn „Organe der Polizei, anderer Sicherheitsbehörden oder der Justiz sich systematisch an Straftaten oder ihrer Vertuschung beteiligen“. Davon könne in der Bundesrepublik keine Rede sein. Doch die gesamte Debatte um das neue Polizeigesetz läßt keinen hinreichenden Verdacht zu, daß Sachsens Staatsregierung und Mehrheitsfraktion sich irgendeinen „Rat“ geben lassen.
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