: Sexueller Mißbrauch verjährt zu früh
Bundestag berät heute über die Verlängerung der Verjährungsfristen bei Sexualstraftaten gegen Kinder und Jugendliche / Politikerinnen aus allen Fraktionen sind dafür ■ Aus Bonn Tissy Bruns
Heute abend, wenn die Öffentlichkeit nicht mehr hinsieht, wird im Bundestag eine der wenigen Debatten stattfinden, deren Ausgang nicht von vornherein feststeht. „Strafrechtsänderungsgesetz – Verjährung von Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen“ weist die Tagesordnung des Parlaments juristisch-nüchtern aus. Zu entscheiden haben die Abgeordneten über ein Gesetz, das den Opfern sexuellen Mißbrauchs ein eigentlich selbstverständliches Mindestrecht an die Hand geben soll: das Verbrechen anzuklagen, dessen Folgen für das ganze Leben Wunden schlagen, und den Täter vor Gericht zu bringen.
Die Verjährungsfrist für Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen soll ruhen, bis das Opfer 18 Jahre alt ist. Das sieht der Gesetzentwurf der SPD vor, der seit Juni 1992 vorliegt. Die SPD folgt damit einer Forderung, für die Betroffene, Selbsthilfegruppen, Therapeutinnen und Juristinnen schon lange eintreten. Nach geltendem Recht verjährt der sexuelle Mißbrauch von Schutzbefohlenen nach fünf Jahren, sexueller Mißbrauch von Kindern nach zehn Jahren, Vergewaltigung nach 20 Jahren. Gewalt und Mißbrauch finden in vielen Fällen in der Familie statt, und die Opfer sind oft kleine, sehr kleine Kinder. Oft sind sie erst dann imstande, den Täter (Vater, Onkel oder Bruder) anzuzeigen, wenn sie sich aus der familiären Abhängigkeit gelöst haben – und die Tat verjährt ist. Vor allem Selbsthilfegruppen und Psychologinnen wissen, daß die betroffenen Frauen oft erst viele Jahre nach dem Mißbrauch das verdrängte Entsetzen aufdecken können. Das Ruhen der Verjährungsfrist bis zum 18. Lebensjahr wird auch künftig nicht jeden Mißbrauch vor Gericht bringen, und es wird auch nichts daran ändern, daß die öffentliche Anklage gegen den Täter allein niemanden von den Folgen des Mißbrauchs befreien wird. Aber das Opfer, das als Kind ohnmächtig ist, könnte als erwachsener Mensch immerhin entscheiden, ob es den Täter vor Gericht bringen will. Die Täter begehen ihre Verbrechen häufig im Gefühl der Straffreiheit.
Der zweite Entwurf von Bündnis 90/Die Grünen geht weiter: Die Verjährungsfrist soll erst mit dem 21. Lebensjahr beginnen, die Verjährungsdauer selbst soll auf 30 Jahre ausgedehnt werden. Daß sich im Bundestag eine Mehrheit für diesen Vorschlag finden könnte, war von vornherein unwahrscheinlich. Die ersten parlamentarischen Entscheidungen über den SPD-Entwurf ließen hingegen hoffen. Zwar mahlten auch in diesen Fall die Mühlen des Gesetzgebers langsam. Doch nach einer Anhörung, dem klaren und fraktionsübergreifenden Votum des Frauen- und Jugendausschusses, schloß sich auch der federführende Rechtsausschuß im Oktober 1993 mehrheitlich dem SPD-Entwurf an – mit einigen Stimmen aus der Unionsfraktion. Im Januar dieses Jahres aber mußten die SPD- Abgeordneten Hanna Wolf und Erika Simm enttäuscht melden, daß die Mehrheiten im Rechtsausschuß gekippt waren. Die Verjährungsfrist soll beginnen, wenn das Opfer 14 Jahre alt ist. Über diese Empfehlung hat der Bundestag heute abend zuerst zu entscheiden. Obwohl sie den Segen der Koalitionsmehrheit hat, ist der Ausgang offen. Rund fünfzig Abgeordnete – überwiegend weiblich – hat Claudia Nolte (CDU) in ihrer Fraktion für die 18 Jahre als Beginn der Verjährungsfrist gewonnen. Und wenn auch einige liberale Frauen ihr Unbehagen mit der offiziellen Fraktionsmeinung auch im Stimmverhalten deutlich machen, dann könnte die Koalitionsraison doch aufgebrochen werden.
Denn auf fast unglaubliche Art hat in diesem Fall die Koalitionsraison gegen vernünftige Argumente und gegen Mehrheiten gesiegt. Die Rechtspolitiker der FDP, einschließlich Justizministerin Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, haben frühzeitig signalisiert, daß man über ein Aussetzen der Verjährungsfrist reden könne – aber höchstens bis zum 14. Lebensjahr der Betroffenen. Ins Feld geführt wurden einmal rechtssystematische Gründe: Die Verjährung einer Tat gehöre zur grundgesetzlich fixierten Rechtstaatlichkeit, mit der nicht nach Belieben umgegangen werden dürfe. Immerhin: in Abwägung von Opferinteresse und Rechtssystematik konnte sich die FDP zur 14-Jahres-Regelung durchringen. Aber keinesfalls weiter. In höchst ungewöhnlichem parlamentarischem Stil verweigerte der FDP-Rechtspolitiker Jörg van Essen seine Unterschrift unter den Bericht des Rechtsausschusses von Oktober 1993. Die FDP, so die SPD-Politikerinnen Wolf und Simm, veranstaltete „eine unglaubliche Geschäftsordnungsdebatte im Rechtsausschuß“, um die getroffene Entscheidung rückgängig zu machen. Im Januar stimmte aus den Koalitionsparteien nur noch Susanne Rahardt-Vahldieck (die einzige weibliche Anwesende aus der CDU) für die 18 Jahre. Van Essen beruft sich mit seiner Haltung „insbesondere auf den Opferschutz“, wie er gegenüber der taz erklärte. Die gerichtspraktische Erfahrung lehre, daß die Betroffene nach so langer Frist zum zweiten und dritten Mal zum Opfer werde, zum zweiten Mal durch das Gerichtsverfahren und schließlich durch den in aller Regel folgenden Freispruch des Angeklagten.
Diese Argumente sind in den parlamentarischen Beratungen, auch in der Anhörung, lange und ausführlich erörtert worden. Vor allem die damit befaßten Frauen haben sie nicht überzeugt. Das betroffene Opfer werde selbst entscheiden, ob es die unbestreitbaren Risiken eines Gerichtsverfahrens nach langer Zeit auf sich nehmen will, argumentieren Abgeordnete aus allen Fraktionen. Fast nicht mehr rational erklärbar, sagt Wolf, sei für sie, daß die Rechtspolitiker der FDP sich mit solcher Energie gegen die parlamentarische Mehrheit stemmen. Auch ein Gespräch von Unionsfraktionschef Schäuble mit seinem FDP-Kollegen Solms habe nichts bewirkt, berichtet Nolte. Unter ihrer Unterschriftenliste für die 18 Jahre steht unter anderem Ursula Männle aus der CSU. Frauenministerin Angela Merkel sprach sich der taz gegenüber für die 18-Jahres-Regelung aus.
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