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Behinderte bleiben länger arbeitslos

■ 9.000 Behinderte sind in Berlin arbeitslos gemeldet / Geistig Behinderte sind auf dem Arbeitsmarkt chancenlos

„Als Frau, Behinderte und alleinerziehende Mutter von zwei Kindern trifft es mich dreifach. Da verdrehen die auf dem Arbeitsamt nur noch die Augen und fragen, ob ich nicht lieber in Rente gehen will“, sagt Andrea Schatz. Bis zum November hat die 36jährige Ostberlinerin als Chefredakteurin der Behindertenzeitung Die Stütze gearbeitet, dann mußte das Blatt eingestellt werden. Ihre Erfahrung bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz: Als Journalistin soll sie zehn bis zwölf Stunden täglich verfügbar sein. „Wenn ich gesagt habe, daß ich nur dreißig Stunden die Woche arbeiten kann, war's sofort aus“, sagt die junge Frau, die nach einer Kinderlähmung teils auf Gehstützen, teils auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Wer heutzutage nicht voll belastbar und flexibel ist, hat auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance. Ende März waren nach Angaben des Landesarbeitsamtes in Berlin 9.000 Schwerbehinderte arbeitslos gemeldet. Im Westteil waren es 4.200 Männer und 2.650 Frauen, im Ostteil waren Männer (1.100) und Frauen (1.030) fast gleich stark betroffen. Daß die Zahlen nicht höher sind, führt Gert Foge, Sachbearbeiter beim Arbeitsamt, auf eine „sehr große Dunkelziffer“ zurück. „Viele geben sich nicht als Schwerbehinderte zu erkennen, weil sie Nachteile befürchten.“

Die Zahl der arbeitslosen Behinderten ist seit Mitte 1992 „ziemlich konstant“, stellt Foge fest, nur im Westteil der Stadt sei ein „leichter Anstieg“ zu verzeichnen. „Allerdings sind Behinderte meist länger arbeitslos als Nicht–Behinderte.“ Geistig Behinderte hätten bei der jetzigen Arbeitsmarktlage überhaupt keine Chance. Insgesamt konnten die Arbeitsämter im vergangenen Jahr etwa 700 Behinderte vermitteln, also weniger als ein Zehntel der arbeitslos Gemeldeten. In Brandenburg gelang es 1993 immerhin der Hälfte der 4.000 arbeitslosen Behinderten, wieder auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. „Die kleinen und mittleren Betriebe im Osten sind viel interessierter, Behinderte einzustellen, als im Westen“, sagt Foge.

Ab 16 MitarbeiterInnen muß ein Betrieb sechs Prozent der Arbeitsplätze mit Behinderten besetzen. Am besten schneiden die öffentlichen Arbeitgeber im Westteil der Stadt ab: Sie kommen immerhin auf 5,4 Prozent. Private Arbeitgeber besetzen im Westen 4,1 Prozent und im Osten 3,9 Prozent ihrer Arbeitsplätze mit Behinderten. Schlußlicht ist der öffentliche Dienst in Ostberlin mit 3,0 Prozent. Selbst bei der taz klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Statt der zehn Behinderten, die beschäftigt werden müßten, arbeiten hier nur zwei.

Auch die taz zahlt deshalb die Ausgleichsabgabe in Höhe von monatlich 200 Mark für jeden nicht besetzten „Pflichtplatz“. Aus den Einnahmen wird die Vielzahl der Fördermaßnahmen finanziert, die Arbeitgeber motivieren sollen, Behinderte einzustellen.

Mit Geld allein ist es jedoch nicht getan. Bei vielen Arbeitgebern müssen erst einmal massive Vorurteile abgebaut werden. Dazu kommt, daß gerade kleine und mittlere Betriebe oft nur ungenügend über Fördermöglichkeiten informiert sind und sich mit dem damit verbundenen Papierkram überfordert fühlen. Ein Modellprojekt sorgt hier für Abhilfe: der Fachdienst Integrationsberatung Berlin (FIBB). Dessen MitarbeiterInnen stehen den Betrieben und den Behinderten bei der Wiedereingliederung mit Rat und Tat zur Seite. Zum Beispiel können die zukünftigen KollegInnen eines Gehörlosen einen Crashkurs in Gebärdensprache absolvieren.

Eine der Haupttätigkeit von FIBB ist es jedoch, Arbeitsplätze zu aquirieren – dies können die überlasteten Mitarbeiter der Arbeitsämter kaum noch leisten. FIBB schlägt den Betrieben dann geeignete Bewerber vor. Falls sich bei der Einarbeitung Probleme ergeben, können die MitarbeiterInnen jederzeit vermittelnd eingreifen. Das Aquirieren von Arbeitsplätzen für Behinderte und ihre Wiedereingliederung sind zeitaufwendig. Jede der fünf BeraterInnen von FIBB kann im Monat einem Bewerber zu einem Arbeitsplatz verhelfen. In Anbetracht von fast 9.000 Arbeitslosen ist dies allerdings verschwindend wenig. Dorothee Winden

Fachdienst Integrationsberatung Berlin: Keithstraße 10, 10787 Berlin, Tel. 213 80 43

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