: Der Mythos vom sicheren Arbeitsplatz
■ Auch in Japan gibt es Entlassungen / Lebenslang nur im Prinzip beschäftigt
Nissan schließt eine Autofabrik bei Tokio – es ist das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, daß eine Autofabrik in Japan stillgelegt wird – der Telekommunikationsriese NTT kündigt den Abbau von 50.000 Arbeitsplätzen an, unter dem Druck des hohen Yen verlagern japanische Firmen ihre Produktion in die ostasiatischen Nachbarländer – doch es kommt nicht zu Massenentlassungen. Im dritten Jahr der Krise ist die Arbeitslosenquote in Japan um nur einen dreiviertel Prozentpunkt von 2,1 auf 2,9 Prozent gestiegen.
Es gibt auch in Japan keinen Rechtsanspruch auf lebenslange Beschäftigung. Die Unternehmen – auch die großen – entlassen Arbeitskräfte, wenn auch in geringerem Umfang als im Westen und meist in verdeckter Form. Akzeptiert sind Versetzungen innerhalb der Betriebe, etwa aus der Forschung in den Verkauf, in Filialen oder in Zulieferfirmen, die meist mit einer Lohnsenkung verbunden sind. Es gibt Versetzungen in entfernte Filialen, die den Arbeitnehmer vor die Alternative stellen, entweder seinen Job oder sein Haus, Nachbarschaft und Familie aufzugeben. Vor allem auf ältere, infolge des Senioritätsprinzips bei den Löhnen teure Arbeitnehmer wird oft massiver Druck ausgeübt, das Arbeitsverhältnis „freiwillig“ aufzukündigen. Die lebenslange Beschäftigung findet ohnehin ihr Ende, wenn der Arbeitnehmer zwischen 50 und 55 Jahre alt geworden ist. Die Zeit bis zur Rentenberechtigung muß er mit der Abfindung und mit Hilfstätigkeiten überbrücken. Nicht fest angestellte „periphere“ Arbeitskräfte, in erster Linie Frauen, werden sowieso ohne Zögern entlassen, wenn es die Konjunktur fordert.
Die lebenslange Beschäftigung ist weder ein Recht noch eine durchgängige Realität, sie ist vielmehr ein „regulatives Prinzip“: sie sollte Realität sein, ein Unternehmen sollte seine Mitarbeiter nicht entlassen. Dies gilt auch für die kleinen Unternehmen, die etwa 70 Prozent der Arbeitnehmer Japans beschäftigen. Viele Kleinunternehmer lassen ihre Firma in Krisenzeiten lieber pleite gehen, als daß sie ihre Mitarbeiter entlassen. Sie beginnen dann mit einem verkleinerten Stab von Neuen. Hieraus erklärt sich die hohe Zahl von Firmenpleiten und -neugründungen in Japan.
Obwohl es keinen Rechtsanspruch der Arbeitnehmer auf lebenslange Beschäftigung gibt, gibt es doch Hürden, die das Management nehmen muß, wenn es festangestellte Mitarbeiter entlassen will. Eine erste Hürde ist die öffentliche Meinung: Das Ansehen des Unternehmens würde Schaden nehmen. Die Manager würden erst ihre eigenen Bezüge kürzen, dann die Bonuszahlungen der white collars, dann die Bonuszahlungen der Produktionsarbeiter, bevor sie Entlassungen auch nur in Erwägung zögen. Eine zweite Hürde sind die Betriebsgewerkschaften, deren Militanz sich zwar meist in Mittagspausenstreiks erschöpft, die aber sehr sensibel werden, wenn es um die Sicherheit der Arbeitsplätze geht. Die dritte Hürde ist das Arbeitsministerium. Firmen, die Mitarbeiter entlassen, müssen detailliert nachweisen, daß sie keine andere Wahl haben, daß sie alle anderen Wege der Kostensenkung ausgeschöpft haben, daß sie keine Gewinne machen und auch keine Gewinne erwarten. Zudem subventioniert das Arbeitsministerium die Weiterbeschäftigung von Arbeitnehmern, die die Firmen aus ökonomischen Gründen entlassen müßten. Derzeit wird die Beschäftigung von vier Millionen Arbeitnehmern staatlich subventioniert. Warum hat sich in Japan ein Arrangement durchgesetzt, das die Entlassung von Arbeitnehmern erschwert? Man braucht nicht auf die asiatische Mentalität oder Konfuzius zurückzugreifen. Die lebenslange Beschäftigung ist das Ergebnis der Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital. Schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts versuchten die Unternehmen, paternalistische Arbeitsbeziehungen aufzubauen – ohne Erfolg. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstand eine Situation, die für die Institutionalisierung fester Beschäftigungsverhältnisse günstig war. Auf der einen Seite gab es ein Überangebot an Arbeitskräften, Ergebnis der Nachkriegskrise, der Demobilisierung der Armee und des Rückstroms von Japanern aus den einst besetzten Ländern Asiens. Auf der anderen Seite waren die Gewerkschaften politisch außerordentlich stark. Die amerikanische Besatzungsmacht hatte sie nicht nur legalisiert, sondern sah in ihnen auch Verbündete. In dieser Situation nahmen die Gewerkschaften die Unternehmen beim Wort und griffen auf deren Vorkriegsangebot zurück. Sie konnten die feste Beschäftigung, an der sie aufgrund der drohenden Arbeitslosigkeit interessiert waren, durchsetzen.
Vermutlich wird das lebenslange Arbeitsverhältnis ausgehöhlt werden, und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern auch aus demographischen Gründen. Die lebenslange Beschäftigung setzt nicht nur hohe Wachstumsraten voraus, sondern auch, daß immer mehr junge Arbeitnehmer in die Unternehmen drängen, die bereit sind, relativ niedrige Löhne zu akzeptieren, um die vergleichsweise gut bezahlten Arbeitnehmer der höheren Altersgruppen zu finanzieren – in der Erwartung, daß ihr Arbeitsplatz gesichert ist und sie im höheren Alter ebenfalls in den Genuß höherer Einkommen kommen. Dieser innerbetriebliche Generationenvertrag droht jedoch angesichts des Geburtenrückgangs von den Jüngeren aufgekündigt zu werden – lebenslang hat mittlerweile auch in Japan den Anklang von „lebenslänglich“. Michael Ehrke
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