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Eigenes Leben – eigene Armut

Wo verläuft die Grenze zwischen Risiko- und Gefahrenbiographie? Massenhafte Labilisierung bis in die gesellschaftliche Mitte hinein als latente Gefahr  ■ Von Ulrich Beck

Eigenes Leben – ist das nicht Schönwetterbild einer Gesellschaft in der Wohlfahrtsnische, das mit den aufgezogenen Unwettern – Krieg in Europa und nahezu fünf Millionen registrierter (!) Arbeitsloser in Deutschland – seltsam verstaubt anmutet? Galt die Rede vom eigenen Leben vielleicht nur gestern und gilt heute nicht mehr angesichts wachsender Armut und der Verwahrlosung der Städte? Setzt eigenes Leben nicht eigenes Geld, eigenen Beruf, eigenen Raum und damit die elementare Sicherheit voraus, an der nächsten Ecke nicht ausgeraubt oder abgestochen, angezündet zu werden? Ist nicht in all diesen Dimensionen das eigene Leben in seiner Substanz bedroht? Liegt hier nicht der Grund für die kaum noch versteckten Irrationalismen, die Gewaltanfälligkeit nicht nur am Rande der Gesellschaft, sondern auch aus ihrer Mitte heraus?

Überall Klammereffekte. Jeder will sich und alles mögliche retten, raffen, verriegeln, versichern. Leben wir nicht in einem allgemeinen Verteidigungszustand? Entspricht und entspringt die Rede vom eigenen Leben vielleicht der Sprache und Sicht der Gewinner, während die Verlierer noch stumm, gleichwohl mit Gewalt zeugender Ungeduld unter die Räder geraten? Sind die Gewinner von heute vielleicht die Verlierer von morgen? Und ist es nicht diese Angst vor dem Abrutschen, Abstürzen, die selbst die scheinbaren Gewinner heute schon klammern und zittern läßt? Entsteht so nicht eine Massenstimmungslage, in der fast alles möglich wird? Ist das nicht die Signatur des Zeitalters?

Tatsächlich haben wir in der alten Bundesrepublik eine Art „Vollkasko-Individualisierung“ (hoher Wohlstand, hohe soziale Sicherheit) erfahren, die nun in die Turbulenzen einer „Zusammenbruchs-Individualisierung“, wie sie die kollektive Freisetzung aus der staatlich verordneten Normalbiographie der DDR darstellt, und zu einer „Armuts-Individualisierung“ gerät, die aus der Talfahrt der Wirtschaft entsteht. Aber eigenes Leben bedeutet niemals Überwindung, sondern Verschärfung sozialer Ungleichheiten.

Erstens öffnet sich die Einkommensschere. Zweitens werden immer mehr Gruppen – zumindest vorübergehend – von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen. Drittens folgen diese immer weniger den sozialen Stereotypen und sind daher auch immer schwerer identifizierbar und damit als politische Kraft zu organisieren. Nicht nur Arbeitslosigkeit, zum Beispiel auch Ehescheidung, plötzliche Krankheit oder Kündigung einer noch erschwinglichen Wohnung bilden typische Falltüren in die Armut, in die Obdachlosigkeit. Viertens müssen in den Existenzformen des eigenen Lebens die Menschen das, was früher als Klassenschicksal gemeinschaftlich verarbeitet wurde, nun als persönliches Schicksal, individuelles Versagen sich selbst zuschreiben und oft allein verkraften. Eigenes Leben heißt: Enttraditionalisierung, Freisetzung aus vorgegebenen Sicherheiten und Versorgungsbezügen. Es meint den Zwang, unter heteronomen, oft undurchschaubaren, widersprüchlichen Bedingungen und Anforderungen eine eigene Biographie zusammenzukratzen, zusammenzubasteln und auch zusammenzuhalten. Das eigene Leben wird prinzipiell zu einem riskanten Leben.

Die Normalbiographie wird zur (scheinbaren) Wahlbiographie, zur Risikobiographie. Gleichzeitig ist das auf sich gestellte Individuum kaum noch in der Lage, die unvermeidbaren Entscheidungen fundiert und verantwortlich, das heißt auch im Hinblick auf mögliche Folgen zu treffen.

Hier wird eine Unterscheidung wesentlich, die die Epoche der klassischen Industriegesellschaft insgesamt von der der Risikogesellschaft trennt. Beide sind von stark traditional geprägten Gesellschaftsformen dadurch unterschieden, daß dort (vereinfacht gesagt) zugewiesene, hier hergestellte Unsicherheiten herrschen, also solche, die aus menschlichen Entscheidungen selbst hervorgegangen sind. Für diese modernen Problemlagen „hergestellter Unsicherheit“ scheint es nun für die Soziologie des eigenen Lebens von besonderer Bedeutung, zwischen solchen zu unterscheiden, die den Individuen noch, und solchen, die ihnen nicht mehr mit den verfügbaren Ressourcen und Fähigkeiten kalkulierbar erscheinen. Jene nenne ich „Risikobiographie“, diese „Gefahrenbiographie“. Die Grauzonen zwischen beiden sind breit und unübersichtlich, da die Grenze selbst letztlich nichts anderes als die Wahrnehmung der Grenze aus der Sicht der freigesetzten Individuen ist.

Und doch wird man sagen müssen: Dort, wo eine wachsende Zahl von Menschen sich von Verhältnissen überrollt sieht, die sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln und Fähigkeiten nicht durchschauen, zähmen oder ignorieren können, ist allein dieser Sachverhalt für die Gesellschaft von großer Bedeutung. Hier und so schlägt der Zwang zur Selbsttätigkeit, Selbstorganisation in Verzweiflung und damit möglicherweise in stumme, brutale Wut um. Wahrgenommene Gefahrenbiographien bilden den Nährboden für Gewalt und Neonationalismus.

Nicht also das Verblassen der Traditionen, nicht jener ominöse Zerfall der Werte, schon gar nicht die Verlockungen des eigenen Lebens, aber dessen dauerhafte elementare Überforderung machen den Kern des Problems aus. In vielen Bereichen der Zusammenbruchs-Individualisierung (neue Bundesländer) scheint diese Situation bereits erreicht beziehungsweise überschritten zu sein.

Daß dieses Urteil so unscharf ausfällt, hat viele Gründe: Vor allem aber, daß Arbeitslosigkeit und Armut immer weniger dauerhaft eine Gruppe trifft, sondern lebensphasenspezifisch querverteilt wird. Schematisch gesprochen: Die Gegensätze sozialer Ungleichheit tauchen als Gegensätze zwischen Lebensabschnitten innerhalb einer Biographie auf. Das heißt nun auch: Ein wachsender Teil der Gesamtbevölkerung ist mindestens vorübergehender Arbeitslosigkeit und Armut ausgesetzt.

Ergebnisse exemplarischer Untersuchungen aus den USA stellen die Rede von der „Zwei-Drittel- Gesellschaft“, nach der ein Drittel der Gesellschaft dauerhaft unterprivilegiert ist, auch für Deutschland in Frage. Statt dessen schlagen viele Armutsforscher vor, von einer 75-15-10-Gesellschaft zu sprechen: Drei Viertel waren im Untersuchungszeitraum niemals arm, etwa 15 Prozent waren kurzfristig (ein- bis zweimal) und etwa zehn Prozent längerfristig (mehr als dreimal) arm.

Die Höhe und Konstanz der Zahlen täuscht also darüber hinweg, daß Arbeitslosigkeit und Armut nicht gleich als dauerndes Fatum, sondern zunächst oft mit den leisen Sohlen des Vorübergehenden in das Leben eintritt, kommt und geht, und sich irgendwann einmal niederläßt, seßhaft wird. Um es mit dem Bild von Joseph Schumpeter zu sagen: Der Bus der Massenarbeitslosigkeit ist mit einer Gruppe von Stammarbeitslosen besetzt, die sich durch Sitzenbleiben herauskristallisiert. Ansonsten herrscht aber Kommen und Gehen, Einsteigen und Aussteigenwollen. Die Menschen begegnen sich eher verlegen. Die Zahlen sind da. Aber man weiß nicht, wo die Menschen sind. Es gibt Spuren. Das abgemeldete Telefon. Der überraschende Austritt aus dem Club. Aber sie verweisen nur noch einmal auf die Mauern des scheinbar Vorläufigen, mit dem sich die neue Armut auch dort umgibt, wo sie endgültig wurde.

Dies ist eine äußerst zweischneidige Entwicklung. Der Skandal konstant hoher, wachsender Massenarbeitslosigkeit mit Langzeitperspektive verpufft. Massenarbeitslosigkeit wird wegindividualisiert.Doch anders herum gesagt: In dieser Querverteilung liegt auch ein Stück Demokratisierung der Massenarbeitslosigkeit, ein Stück Umverteilung des Mangels, der Chancenangleichung nach unten, denn auch „die da oben“ sind vor Armut und Arbeitslosigkeit nicht mehr sicher, auch unter den Reichen gibt es ein derartiges großes Kommen und Gehen.

Doch noch scheint die Scheidelinie zwischen Risiko- und Gefahrenbiographie in Deutschland nicht massenhaft überschritten. Umgekehrt heißt dies aber auch: Ein ganz offensichtlich strukturell bedingtes Massenschicksal verwandelt sich in der Optik des eigenen Lebens in Eigenschuld. Eigenes Leben = eigene Armut: Das ist der Kreuzigungsweg des Selbstbewußtseins. So wird Arbeitslosigkeit – etwas Äußerliches – in die Person hineingedrückt, ihr zur Eigenschaft. Es ist diese in die Stummheit hineingenommene, im rituellen Durchlaufen der vergeblichen Abwendungsversuche sich vollziehende Selbstzerstörung, mit der das Massenschicksal unter der Oberfläche wuchert.

Die neue Armut verschwindet in ihrer Stummheit und wächst in ihr. Dies ist ein ebenso skandalöser wie prekärer Zustand, der der politischen Anwaltschaft dringend bedarf. Denn Armut, die sich aus den sozialstrukturellen Auffangbecken der Klassen und politischen Organisationen herausentwickelt, in den Brechungen des eigenen Lebens verschwindet und sich verschärft, ist dadurch noch lange nicht verschwunden. Im Gegenteil: Sie wird Ausdruck einer massenhaften Labilisierung der Existenzbedingungen bis in die äußerlich wohlhabende Mitte hinein, deren politische Wirkkraft ebenso neu wie unberechenbar und global ist.

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