: Die Jobs sind weg, es geht voran
Die deutsche Wirtschaft erobert ihren Spitzenplatz zurück / Drei Millionen Arbeitslose bleiben ■ Von Donata Riedel
Das Leben gehört den
Lebendigen an; und wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein“ (Goethe)
Nach dem Zweiten Weltkrieg kannten die Westdeutschen auf dem Gebiet der Wirtschaft nur noch einen Wechsel: den zum Besseren, zu immer mehr Reichtum, den es dann lediglich zu verteilen gelte. Als die Berliner Mauer 1989 fiel, sahen Politiker und vor allem Unternehmer folgerichtig nur Chancen: Der weitgehend gesättigte Inlandsmarkt erweiterte sich fast über Nacht um 17 Millionen Konsumenten mit Nachholbedarf. Osteuropa und die Sowjetunion schienen ebenfalls nur auf die Übernahme westlichen Wirtschaftens zu warten.
In der Euphorie des Vereinigungsbooms ließ sich trefflich vergessen, daß Westdeutschlands Spitzenplatz in der Weltwirtschaft längst nicht mehr unangefochten war. Erstmals hatte 1989 Japan die Bundesrepublik bei den Gütern der gehobenen Technologie von Platz eins der Weltrangliste der Exporteure verdrängt. Bei der Spitzentechnologie war Westdeutschland schon Anfang der 80er Jahre hinter die USA und Japan zurückgefallen.
Daß die Kehrseite der Chance das Risiko ist, daß man auch den Titel Exportweltmeister nicht einfach abonnieren kann, dämmerte den global players in Westdeutschlands Chefetagen erst, als die weltweite Rezession Mitte 1992 mit zweijähriger Vespätung auch in Deutschland zuschlug. Zuerst verblüfft und schließlich panisch fanden sich die Konzernlenker plötzlich auf dem absteigenden Ast wieder: Nicht nur die gleichberechtigten Konkurrenten aus der Liga der Reichen, USA und Japan, feierten die größeren Weltmarkterfolge. Auch aus den Schwellenländern Südostasiens kamen plötzlich ernstzunehmende Wettbewerber.
Mit der öffentlichen Achtung vor der Management-Elite war es vorbei. „Nieten in Nadelstreifen“ höhnte monatelang ein Titel von Platz eins der Sachbuch-Bestsellerliste des Spiegel. Die Wirtschaftsexperten der OECD, des Beratergremiums der Industriestaaten, stuften im März 1994 Gesamtdeutschland hinter Italien auf Platz 14 auf der Liste der reichen Länder ein; auch Westdeutschland alleine käme nur noch auf den sechsten Platz hinter den USA, Luxemburg, der Schweiz, Kanada und Japan. Noch peinlicher die Prognose der Schweizerischen Bankgesellschaft über die Wettbewerbsfähigkeit der Standorte im Jahr 2000: Südkorea, China, Israel, Singapur und Japan sind danach die künftig attraktivsten Länder für investitionswillige Kapitalisten. Deutschland rangiert abgeschlagen auf dem 13. Platz hinter Irland, Malaysia, Spanien und Frankreich.
Nicht nur eine Rezession, sondern eine Systemkrise diagnostizierten die Wirtschaftsberater der Kienbaum-Gruppe im August 1993: „80 Prozent der Unternehmen kranken an akutem Ideenmangel.“ Ziele und Visionen seien in Führungsetagen nur selten anzutreffen. Kreative Menschen würden gerade in der exportorientierten Großindustrie systematisch frustriert. Und das ist für ein exportorientiertes Hochlohnland fatal: Gegen die Weltmarkt-Konkurrenz kann ein Hochlohnland auf längere Sicht nur konkurrieren, wenn es innovative, permanent verbesserte Produkte hervorbringt, für die weltweit ein entsprechend hoher Preis kassiert werden kann. Reines Kostendenken, kritisierten die Kienbaum-Leute, und die Meinung, man könne sich mit Massenentlassungen schlicht gesundschrumpfen, nützten den Unternehmen letztlich wenig.
Die Schelte scheint zu wirken. Inzwischen setzt sich in den exportorientierten Wirtschaftszweigen die Erkenntnis durch, daß die Industrie einen Modernisierungsschub braucht: Allerorten wird umorganisiert, werden Bürokratien und Hierarchieebenen abgebaut, machen sich neuerdings auch einfache Arbeitnehmer Gedanken darüber, wie die Arbeit am rationellsten zu organisieren sei: notfalls ohne sie selbst.
Sei es der „kontinuierliche Verbesserungsprozeß“ des Ignacio López bei VW oder die Entdeckung des Mitarbeiters als denkendes Wesen bei BASF: eine „Revolution“ finde in den Betrieben statt, schwärmt der Spiegel. Das Ende des Fließbands und der Arbeitsteilung sei nahe, künftig werde in Gruppen, kommunikativ und kreativ gearbeitet.
Daß sich darüber bislang kaum jemand uneingeschränkt freuen mag, liegt an den von den Kienbaum-Leuten geschmähten „analytisch begabten Pfennigfuchsern“ in Deutschlands Chefetagen. Sie nutzten die Rezession, ihre Absatzkrise und die schlechten Daten über Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit im Weltmarkt zu einem hierzulande nie erlebten Kehraus: 900.000 Industriearbeitsplätze wurden seit 1991 hinweggefegt. Am härtesten begaben sich die vier wichtigsten Exportbranchen auf Schrumpfkurs:
– Der Maschinenbau (20 Prozent Exportanteil) wird bis Ende 1994 um 130.000 Stellen auf 950.000 Beschäftigte verkleinert;
– die Automobilbranche (18 Prozent Exportanteil) wird 200.000 Arbeitsplätze vernichten und 580.000 behalten;
– die Chemie (14 Prozent Exportanteil) erleichtert sich um 50.000 Arbeitsplätze auf 580.000;
– die elektrotechnische Industrie (13 Prozent Exportanteil), Ende 1992 noch Arbeitgeber für eine Million Menschen, streicht 77.000 Arbeitsplätze.
Schon schwärmen Wirtschaftsexperten, daß im nächsten Jahr die deutsche Industrie schlank und schlagkräftig wie ein Phönix aus der Asche emporsteigen wird. Fünf der sechs im Auftrag der Bundesregierung forschenden Wirtschaftsweisen haben in dieser Woche in ihrem Frühjahrsgutachten das Ende der Rezession verkündet – weil die Industrie wieder mehr exportiert. Aus den USA, die sich seit über einem Jahr in einer Aufschwungphase befinden, und aus den boomenden südostasiatischen Schwellenländern kommen immer mehr Bestellungen. Das Bruttoinlandsprodukt, der Wert aller hierzulande produzierten Waren und Dienstleistungen, werde in diesem Jahr wieder um 1,5 Prozent wachsen.
Was aber passiert mit der Asche, aus der sich der Phönix Industrie emporschwingt? Die Massenarbeitslosigkeit, das geben auch die euphorischsten Konjunktur- Auguren zu, wird so bald nicht abgebaut, und wenn überhaupt, dann erst 1996. Irgendwann in den 70er Jahren hat eine Entwicklung begonnen, die heute dem Regierungspersonal der Industrieländer den Angstschweiß auf die Stirn treibt: jobless growth – Wirtschaftswachstum, ohne daß in großer Zahl neue Arbeitsplätze entstehen würden.
Über die letzten 20 Jahre, das ermittelten die Wirtschaftsforscher vom RWI im Auftrag der Bundesregierung, hat es innerhalb der 58 westdeutschen Wirtschaftsbereiche eine Verschiebung bei der Wertschöpfung gegeben: Weltmarktorientierte, gewerbliche und großbetriebliche Branchen, also die klassischen Erfolgs- industrien, haben heute einen geringeren Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP). Gleichzeitig wurden umweltbelastende und lohnintensive Fertigungen abgebaut oder ins Ausland verlegt. An Bedeutung gewonnen haben Kleinbetriebe im Dienstleistungsbereich sowie die wachstumsintensiven Branchen Büromaschinen, Kunststoffwaren, Kreditinstitute, Post, Verkehr. Ihr Anteil an der Wertschöpfung wuchs von 16,5 Prozent 1970 auf knapp 30 Prozent 1992. Insgesamt arbeiten heute in Westdeutschland nur noch 30 Prozent in der Industrie.
Bei diesen Verschiebungen zwischen verschiedenen Wirtschaftsbereichen zeigt sich nun auch in Deutschland die sogenannte Eurosklerose: Anders als in den USA, wo in den vergangenen Jahren Millionen von überwiegend niedrig entlohnten „Mac-Jobs“ entstanden sind, finden die in Europa Entlassenen aus der Industrie längst nicht alle einen bezahlten Job im Dienstleistungssektor. Selbst Arbeitsminister Norbert Blüm mußte kürzlich zugeben: „Entweder, man ist völlig drin in der Arbeit oder vollkommen draußen.“
Das Time Magazin konstatiert, daß die Statistikabteilungen der Arbeitsämter inzwischen EU-weit zu „Ministerien der Angst“ geworden sind: 12 Prozent Arbeitslose in Frankreich, 16,9 Prozent in Irland, 23 Prozent in Spanien, 9,7 Prozent in Belgien, derzeit 8,9 Prozent in Deutschland, wobei die Quote in diesem Jahr, trotz Wirtschaftswachstums, auf 9,9 Prozent zulegen wird. Einschließlich der Skandinavier wird sich die Europäische Union vermutlich bis Anfang 1995 bei einer Arbeitslosenquote von 12 Prozent einpegeln – das wären dann 23 Millionen Menschen, die in den reichsten Ländern der Welt ohne bezahlte Arbeit dastünden.
Warum aber sind ausgerechnet die Industrieländer in so kurzer Zeit so tief in die Rezession gesunken und können sich, was den Faktor Arbeit angeht, nicht aus ihr erheben? Vieles ist da zusammengekommen, stellen die Analysten fest. Die Malaise begann demnach in den frühen 80er Jahren der Reagonomics. Nicht die Deregulierung der Weltmärkte, sondern die in den Industrieländern um sich greifende Verschwendung untergrub die Fundamente der reichen Industrienationen: Regierungen, Unternehmen und Konsumenten lebten immer mehr auf Pump.
Nach dem Ende des Kalten Krieges kam verschärfend die – im Grunde ja nur positive – Krise der Verteidigungsindustrien hinzu. Deutschland finanzierte außerdem die Vereinigung über zusätzliche Schulden der öffentlichen Haushalte, die über steigende Sozialabgaben und höhere Steuern wieder hereinkommen mußten und müssen – Faktoren, welche die Arbeitsplätze für die Unternehmer via Lohnnebenkosten verteuert haben. Weil zugleich Fortschritte bei Computertechniken und Automation erzielt wurden, lohnte und lohnt es sich immer mehr, menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen – und arbeitsintensive Produktionen, die keine anspruchsvolle Technik verlangen, in Billiglohnländer zu verlegen.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs brauchen Textilunternehmer und andere Hersteller von Gütern des täglichen Bedarfs gar nicht unbedingt bis auf die Niedriglohngebiete Asiens auszuweichen: Osteuropa liegt vor der Haustür, und wird – wie Lateinamerika für die USA – nun der nahe gelegene Hinterhof der Europäischen Union.
Zudem sind die Osteuropäer keine Analphabeten, sondern gut ausgebildete Fachkräfte, die in der Industrie durchaus vergleichbare Arbeit leisten – zu einem Bruchteil des Lohnes (siehe unten). Während der Durchschnittsarbeitsplatz 1992 in der Bundesrepublik (West) mit 6.578 Mark zu Buche schlug, kostete er in Polen für den Arbeitgeber nur 367 Mark, in Tschechien 401 Mark und in Ungarn 663 Mark im Monat.
Die Verlagerung von Arbeit in asiatische Schwellenländer oder Osteuropa geschieht allerdings sehr viel langsamer, als die Unternehmer derzeit aus taktischen Gründen glauben machen, und zumeist aus einem anderen Grund: dem der Markterschließung. Den weitaus größten Teil der Auslandsinvestitionen deutscher Firmen müßte man eigentlich inzwischen als inländische Standortverlagerungen zählen: Er findet im EU- Binnenmarkt statt. Dorthin gehen auch zwei Drittel der deutschen, aus Tradition Export genannten, Warenlieferungen. Darüber hinaus investieren die deutschen global players vorwiegend in den USA, Südostasien, Tschechien und Ungarn – den Weltgegenden, denen das größte Wirtschaftswachstum verheißen ist.
Nichts können darum die hochproduktiven, Hochlöhne zahlenden Industrien weniger brauchen als Regierungen, die sich für die Abschottung der Inlandsmärkte einsetzen und Handelskriege anzetteln. Genau das aber tun ausgerechnet die Regierungen der Tride der reichsten Handelsblöcke USA, Japan und EU, die in den letzten 20 Jahren mit ihrer Deregulierungspolitik den Welthandel geschaffen und hervorragend an ihm verdient haben. Um heimische Arbeitsplätze zu schützen und soziale Probleme zu vermeiden, versuchen sie sich gegeneinander und gegen die Konkurrenz der Schwellenländer abzuschotten.
Kurzfristig mag Protektionismus alte Arbeitsplätze retten, langfristig jedoch dürfte er mehr Arbeitsplätze kosten als der weltweite Wettbewerb. Denn Handelskriege funktionieren immer nach dem Muster: Wenn ich dir keine Autos verkaufen darf, lasse ich deinen Reis oder deinen Stahl nicht auf meinen Markt. Die deutsche exportabhängige Wirtschaft würde nur verlieren. All das, was hier produziert wird, könnte nie und nimmer im Inland verkauft werden.
Der Wechsel, den die Industriestaaten jetzt erleben und erleiden, wird weltweit die Chancen und Risiken neu verteilen. In den Zeiten der Vollbeschäftigung konnte sich jeder Einwohner Westeuropas darauf verlassen, besser und sicherer zu leben als ein Inder oder eine Chinesin. Aus der Sicht vieler Menschen in Asien wird die Massenarbeitslosigkeit Europas ein Gewinn sein.
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