Hymnen der Herren

„Hast du die Krater im Gesicht des Spaniers gesehen?“: Der Grand Prix d'Eurovision de la Chanson ist für die schwule Identitätsstiftung längst unverzichtbar. Ein Ritualbericht aus dem heimgesuchten Dublin  ■ Von Jan Feddersen

Die Wetten standen nicht gerade günstig für die beiden. Und wie Paul Harrington und Charlie McGettigan dort auf der Bühne standen und lächelten, da schien es, als wollten sie ihren Sieg genauso inszenieren, wie sie ihr Lied vortrugen: still.

Noch nie hat ein Land den Grand Prix d'Eurovision de la Chanson, wie der Wettstreit in Deutschland heißt, dreimal hintereinander gewonnen. Doch vielleicht hätte man trotzdem der Stimme des Volkes Vertrauen schenken sollen. Bekanntlich wissen Taxifahrer am besten, wie die Dinge, auf die es wirklich ankommt, laufen werden: „Ireland, I tell you, Ireland will win“, sagte der Dubliner sehr gelassen. Seine Tochter, im vierten Monat schwanger, habe es ihm verraten.

Dublin, Ende April 1994. Die Stadt wirkt fast mediterran; bevölkerte Straßen bis weit nach Mitternacht, eine aufgeräumte Stimmung, die daran erinnert, wie eilig und hektisch es bisweilen in deutschen Großstädten zugeht. Sommerliche Temperaturen von 25 Grad. Die Zeitungen des Landes behandeln den Wettbewerb, als sei die Oscar-Verleihung an den Liffey verlegt worden: mit allergrößter Aufmerksamkeit.

„Rock'n'Roll Kids“ heißt der Beitrag des nunmehr erfolgreichsten Teilnehmerlandes: eine streng ohne Orchester, nur von den beiden Interpreten mit Piano und Gitarre begleitete Ballade über die Träume und Schäume zweier Herren, die längst in den Vierzigern stehen, graue Haare zur Schau tragen, als wäre jedes davon ein Orden für gelebtes Leben: „I remember sixty-two / I was sixteen and so were you / And we never knew what life held in store / We just want to rock'n'roll for evermore.“

Was sich ausnimmt wie die Minimallösung aller europäischen Juries – das Lied gewann mit 226 Punkten 60 Zähler mehr als das polnische Lied auf dem zweiten Rang – entpuppt sich bei näherem Hinsehen als folgerichtige Entscheidung der Votanten: Siegen durfte ein Lied, das sich besserer Zeiten erinnert, als das Bier noch nicht schal und die Liebe noch rein, die Zukunft noch offen und die Kinder noch nicht geplant waren.

Zerren der Zeitläufte

1956 wurde der Wettbewerb etabliert als Antwort auf die Haleys und Presleys, die mit ihrer über die amerikanischen Soldatensender ausgestrahlten Musik das Abendland auf die kulturell bislang härteste Probe stellten. Der Grand Prix d'Eurovision de la Chanson sollte mit gepflegten Kompositionen und anspruchsvollen Texten die europäische Jugend vor der Verderbnis des Rock'n' Roll bewahren. Nun sind die Kinder ihrer Eltern selbst alt geworden – und können sich selbst vor Melancholie kaum noch in der Balance halten, so sehr haben die Zeitläufte an ihnen gezerrt.

„Rock'n'Roll Kids“ ist das trendigste, was seit Jahren den Wettbewerb gewinnen konnte; das Ambiente: unplugged; die Textilien: gedeckt; der Text: wie aus der Feder eines mit letzter Hoffnung in den Kampf ziehenden Jusos; die Melodie – vorhanden. „How I wish we could find those Rock'n'Roll days again“: Was als ästhetische Konzeption schon bei den Olympischen Winterspielen in Lillehammer sichtbar wurde, zeigte sich auch beim größten europäischen TV-Pop-Event – die Neunziger seien friedlich, besinnlich und trostbedürftig.

Neunzig Prozent schwul

Während vor dem Point Theatre, einem in einem alten Warenhaus im Dubliner Hafen hochgestylten Veranstaltungspalast, die Leute den Heimsieg feiern und sich dem allgemeinen Alkoholgenuß hingeben, wo sie wie in einer Fußballarena „olé-olé-olé“ anstimmen und die Veranstalter beteuern, den Wettbewerb garantiert im kommenden Jahr nicht mehr ausrichten zu wollen, dominiert hinter den Kulissen Ratlosigkeit.

Weniger bei den Journalisten – die tickern ihre Meldungen nach Hause, als sei gerade Rudolf Scharping zum europäischen Karnevalspräsidenten gewählt worden. Nein, die Fans hätten jedes andere Lied gewählt – nur eben das irische nicht. Was der näheren Erklärung harrt, soll einfach nur festgestellt werden: Von den etwa 2.000 Leuten, die alljährlich als Troß von Grand Prix zu Grand Prix reisen, Polls abhalten und die Wettbüros reich machen, sind neunzig Prozent schwul. Also sagt Thomas Bardoweit, 24jähriger Bankangestellter aus Osnabrück: „Eine Woche habe ich das Lied erfolgreich verdrängt.“ Seiner Tirade läßt sich entnehmen, daß er das Siegerlied für „großväterlich“, „langweilig“ und „selbstmitleidig“ hält. Der Mann, der acht Jahre nach der besten Zeit von Paul Harrington und Charlie McGettigan geboren wurde, hätte dem portugiesischen Lied den Vorzug gegeben: „Chamar a Musica“.

Erhöre nur mein Lied

Sara Tavares, die sich mit dem achtbaren achten Platz zufrieden geben mußte, gab sich als Jüngerin Whitney Houstons, des Idols aller amerikanischen Frisösen und Boutiquenverkäuferinnen: Wie eine Heroine stand sie auf der Bühne, zart, ja, fragil ihre Gesten, mit einer Stimme ausgerüstet, wie sie schwule Männer lieben – verzweifelt hoch. Und dann der Text, programmatisch durch und durch für das Klientel, das den Grand Prix d'Eurovision als ebenso kollektiv identitätsstiftend anerkennt wie das Unvermögen – in Deutschland beispielsweise –, beim Schlagballwerfen größere Weiten zu erzielen.

Welcher heterosexuelle Mann hätte es nötig, das ganze Jahr thematisch mit Liebe zu bestreiten – wo ihm doch die Welt fraglos gegenübertritt? Für schwule Männer scheinen hingegen alle Fragen allzeit offen. Kein Wunder, daß Heroinen wie Barbra Streisand oder Vicky Leandros größere Wertschätzung genießen als singende Jammertröpfe wie Eric Clapton oder Sting.

„Komm heute nacht / laß diesen leeren Raum erfüllt sein von magischem Licht, von Geflüster und schweren Parfums / Jeder Ton ein Tropfen Wein / alle Poesie sei mein / Erhöre nur mein Lied.“ Versehen mit einer kandierten Melodie, ergibt dies die Hymne jener Herren, die den Grand Prix d'Eurovision schon deswegen mögen, weil nirgendwo sonst so effektiv und zufällig zugleich über die Wirklichkeit abgestimmt werden kann: Maltas Stimmen haben das gleiche Gewicht wie die Frankreichs, Islands oder Deutschlands.

Wo sonst gibt es an einem Abend so viele schöne Menschen mit schönen Gesten, schönen Gedanken und wunderschönen Auskünften: „Ich mag Musik. Musik ist mein Leben. Die Menschen sollten Musik hören, dann würden sie sich verstehen“, sagte die Portugiesin Tage zuvor – wobei die Griffel über die Blöcke flogen. Wer würde sich in Mitteleuropa noch trauen, so etwas öffentlich zu beteuern – ohne gleichzeitig auf das Leid in Sarajevo oder vor der eigenen Haustür – unter Angabe einer Spendenkontonummer – hinzuweisen?

Nicht Spaß – Passion!

Daß die Welt schlecht ist, würde im übrigen niemand der Grand-Prix- Fans bestreiten. Carlos Ibarria aus Alicante, der den Wettbewerb seit drei Jahren dazu nutzt, Männern aus anderen Teilen Europas näher auf die Zähne zu fühlen, sagt kurz: „Aber muß man dann noch dauernd davon singen?“ Und doch wird hinter den Kulissen mit den eisenhärtesten Bandagen gekämpft, darin kaum unterschiedlich zu Hooligans in Sportstadien, Grateful-Dead-Fans oder Opernszeneasten, um das hohe C flehend: Die Teilnehmerländer bringen nur eine begrenzte Anzahl von Promotion-CDs mit. Also muß schlicht – geklaut werden.

Niemand würde Taschen herumstehen lassen, abgegeben wird nur im Tausch: „Kriegst Malta nur, wenn du mir Rußland gibst.“ Josef Peter, Bürokaufmann aus Ingolstadt, der öfters zu Plattenbörsen fährt und sagt, „kein Kind von Traurigkeit“ zu sein, würde „sogar mit jedem schlafen, wenn ich an eine bestimmte Single heranwill“.

Die Pressebetreuerin im Dubliner Point Theatre mußte bei der

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Anhörung des kroatischen Sängers aus purer Notwehr ihren Pumpsabsatz auf den Mittelfinger eines norwegischen Fans setzen: Der hatte ihr durch die Beine gegriffen, um besser an den Karton mit den musikalischen Preziosen heranzukommen.

Kein Wunder, daß die Szenerie ein wenig sakral wirkt: Humor wirkt bei den Fans verfehlt, der Grand Prix d'Eurovision bedeutet schließlich keinen Spaß, sondern eine Passion, die an die Gläubigkeit ausgemergelter Körnerfresser erinnert. Dafür übt man sich in der Kunst der üblen Nachrede: „Hast du die Krater im Gesicht des Spaniers gesehen?“ Oder: „Die Engländerin sieht aus wie ein Putzlumpen.“ Verhärmter Charme? Eher Lagebesprechungen in einer Welt, die sich als „closed society“ gibt – und genau darin der schwulen Szene verwandt ist wie sonst gar nichts.

Überhaupt: Was von außen bizarr wirkt, wird drinnen als selbstverständlich verhandelt. Nur von weit her betrachtet, kommt der Grand Prix d'Eurovision als lästige, kaum abschaffbare Tradition daher, die eben einmal im Jahr über die Kanäle rauscht. Für den Troß der Gläubigen ist das Ereignis keine Frage von Leben und Tod – sie weist weit über solche profanen Daten hinaus.

Der niederländische Entertainer Paul de Leeuw – eine Mischung aus Corny Littmann, Dirk Bach und Hella von Sinnen – beklagt zurecht: „Niemand lacht, dabei geht doch nichts verloren, wenn man mal einen lockeren Spruch bringt.“ Der populärste TV-Unterhalter des Nachbarlandes, selbst auf eine aggressive Weise schwul, die den meisten der Grand-Prix-Hasen fremd ist, ahnt, woran es fehlt: „Lockerheit, ganz sicher.“

Bed & Breakfast für Litauen

Erstmals durften Länder aus dem früheren Osteuropa mitmachen. Silvi Vrait, in Estland seit langem ein Star der Jazzszene, ging auf Nummer Sicher, sang ein Lied, das sie für Eurovisions-kompatibel hielt („Nagu Merelaine“ – „Wie eine Meereswoge“) und erlitt schweren Schiffbruch. Dieses Jahr mochten die Juries die etwas risikoreicheren Beiträge mehr: Orchestraler Staubsaugersound allein wurde nicht belohnt. Der Sänger Litauens, Ovidijus Vischniauskas, der Joe Cocker als sein Vorbild angibt, wurde Letzter – „Lithunia – zero points“.

Der Rang entsprach der Einordnung in der Hotellerie: Logierten andere Delegationen in Fünf- Sterne-Häusern, mußte die litauische Mannschaft mit Bed & Breakfast vorliebnehmen – mehr Geld stand nicht zur Verfügung. Immerhin: Polen (Edyty Grniak, große Stimme, 2. Platz) und Ungarn (Friderika, sehr trendy mit Gitarrenbegleitung und im Stile einer jungen Popdiseuse, 4. Platz) als Grand-Prix-Einsteiger schafften mehr als allgemein erwartet.

Absteigen, also ein Jahr pausieren, müssen Österreich, die Schweiz, Finnland und Spanien: Ihre Mühelosigkeit ward bestraft, ihre musikalische Ware als längst verdorben abgewiesen. The morning after: Aus den Radios plärrt die väterliche Klage Paul Harringtons und Charlie McGerrigans. Rock'n'Roll-Kids: Die Jugend beginnt, ihren Eltern zu glauben, der Brückenschlag zwischen den Generationen scheint gelungen. Zumindest drinnen herrscht tiefer Friede.

Siehe auch Die Wahrheit