: Auf der Straße mit eigener Zeitung
■ Nichtseßhafte Kinder verkaufen seit gestern ihre Zeitung „Zeitdruck“
„Das erste Mal bin ick mit elf Jahren abgehaun, war jut, keiner hat mir gesagt irgendwie, was ich machen sollte und so.“ David K. ist 15 Jahre alt und vor vier Jahren von seiner Mutter abgehauen. Seither schlägt er sich in Berlin irgendwie durch: Wie, das wollte Zeitdruck, eine neue Zeitung von obdachlosen Kindern und Jugendlichen, ausführlich dokumentieren und seine Lebensgeschichte erzählen. Daraus wurde nichts, denn David ist aus dem Wohnprojekt, in dem er die letzte Zeit wohnte, wieder spurlos verschwunden. Seit gestern verkaufen die Kinder und Jugendlichen die Zeitung und dürfen pro verkauftem Exemplar eine Mark behalten.
David ist einer von etwa 3.000 nichtseßhaften Kindern und Jugendlichen in Berlin, schätzt Jörg Richert, Sozialarbeiter im Wohnprojekt „Villa Störtebeker“, das der Verein „Karuna“ seit drei Jahren in Lichtenberg betreibt. Dazu kommen noch diejenigen, die mit ihren Familien obdachlos geworden sind. Weitere Anlaufstellen des Vereins sind das Café „Drugstop“ im selben Bezirk und die „Nestwärme“ in Prenzlauer Berg. Die „Bleibe“ in Friedrichshain ist eine Erstanlaufstelle, wo sich täglich 40 bis 60 Leute im Alter zwischen zwölf und 30 Jahren ein Essen für eine Mark abholen. Der Gesundheitszustand der Klientel ist meist sehr schlecht, sagt Richert, zum Arzt können die meisten nicht gehen, weil sie nicht sozialversichert sind und keine Papiere mehr haben. Viele sind drogenabhängig, wobei Alkohol die Hauptrolle spielt. Die Sozialarbeiter machen den Jugendlichen Angebote, aufdrängen wollen sie ihnen nichts: „Wer nur zum Essen kommt, den fragen wir nicht weiter.“
Um mehr Jugendliche erreichen zu können als mit den Cafés, betreibt der Senat Beratungsbusse am Zoo und am Alex als besonders „niedrigschwelliges“ Beratungsangebot, so Jugendsenator Thomas Krüger (SPD). Dort können sie übernachten und ein Frühstück bekommen, um nicht auf den Strich gehen zu müssen. Was dann weiter geschieht, müsse „flexibel geklärt werden“. So können die nichtseßhaften Jugendlichen in längerfristige Unterkünfte weitervermittelt werden. In Berlin gibt es etwa 4.000 Heimplätze in öffentlicher oder freier Trägerschaft, zusätzlich 66 Wohngemeinschaften mit zusammen etwa 350 Plätzen. Für die Berufsbildung stehen 1.300 Plätze zur Verfügung.
Für die Kosten kommt das zuständige Jugendamt auf – da aber ein großer Teil der Betroffenen keine Berliner sind, klemmt es dabei häufig: „Wir können in Berlin nicht alle Probleme der Republik lösen“, so Krüger. Bei der Herkunft der Jugendlichen hat er eine Trendwende beobachtet: Bis vor eineinhalb Jahren kamen vor allem Westdeutsche, jetzt viele aus der ostdeutschen Provinz, „aus Cottbus, Elsterwerda, Aschersleben“. Die Stadt reizt, das Abenteuer, die Anonymität. Auch wenn die Probleme im Elternhaus zugenommen haben, ist doch „die Treberproblematik nicht neu“. Die DDR habe sie nur, so Krüger, durch eine „offensivere“ Jugendpolitik vertuscht, indem die Betroffenen einfach in „Jugendwerkhöfe, eine Art Kinderknast“ gesteckt wurden.
Bezuschußt werden die Druckkosten der Zeitung von der „Stiftung Demokratische Jugend“ mit 4.800 Mark. Zeitdruck ist inzwischen, nach HAZ und mob, die dritte Obdachlosenzeitung. Eigentlich wollten die etwa fünfzehn Jugendlichen und fünf Sozialarbeiter, die an dem Projekt mitarbeiten, gar kein eigenes Blatt herausgeben, doch die geplante Zusammenarbeit mit mob zerschlug sich. Ralph Bollmann
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