Vom Überleben des Narren unter Wölfen

Die innere Emigration im Dritten Reich als Totentanz des dreißigjährigen Krieges: Karl Amadeus Hartmann schrieb mit dem „Simplicius Simplicissimus“, den die Berliner Kammeroper aufführt, ein Leitbild gegen den Faschismus  ■ Von Frank Hilberg

1933 ist Karl Amadeus Hartmann 28 Jahre alt und ein nahezu unbekannter Komponist – zu seinem Glück. Gerade zur Höhe seines Könnens gelangt, bricht jede Möglichkeit, seine Werke im Musikleben zu erproben, abrupt ab. Auswandern will er nicht, dazu ist der Verfolgungsdruck nicht groß genug; Arrangieren kann er sich nicht, dazu ist er moralisch zu integer. Es bleibt einzig die innere Emigration, die Arbeit für die Schublade. Doch auch ein Überwintern durch Rückzug ins Private ist ihm nicht möglich, hellwach und weit vorausschauend sieht er die Katastrophe, noch bevor selbst die Wölfe wissen, worauf sie hinsteuern. Seine erste Symphonie „Miserae“ ist bereits 1934 den Opfern von Dachau gewidmet.

Fast 300 Jahre zuvor stürzte ein anderer durch ein Leben inmitten des Umbruchs: Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen erlebte, wie der große Krieg kam, der Glaube an den einen Gott ebenso zerspalten war wie das heilige Reich; wie Fürst wider Kaiser, Ritter wider Ratsherr, Bauer wider Städter und Reuter wider Reuter stand und der Tod ihrer aller Herr war. Grimmelshausen hat die Verwüstung seiner Heimatstadt erlebt, wurde entführt, zum Troßjungen gemacht, zum Soldaten und überlebt den Krieg durch Klugheit, List und Glück. Niedergeschlagen hat sich sein Lebensweg 1668 im „Abentheuerlichen Simplicissimus Teutsch“.

Den Simplicius kennen wir: Ein Unbedarfter, aufgewachsen hinter den Wäldern; ein Weißnichts, fast ein Wolfskind wie Kaspar Hauser, aber sprechen kann er, auch wenn er närrisch-weise stets das Richtige am falschen Ort spricht. Der ist trotzdem im Vorteil, weil ihm in seiner Einfältigkeit gar nicht aufgeht, in welcher Gefahr er beständig weilt. Aber ist er das historische Modell für die innere Emigration des Dritten Reiches?

Die Episoden der Oper, die Hartmann in Anlehnung an die Figur des Simplicissimus verfaßte, sind schnell erzählt. Die Handlung wird durch Stationen ersetzt und die Aussage mit den Mitteln der Parabel und der Allegorie dargestellt, ganz im distanzierenden Stil der Neuen Sachlichkeit. Simplicius wird vom Bauern vor dem Wolf gewarnt. Dieser tritt in Form eines Landknechts auf, der Soldaten rekrutiert. Tilman Birschel nun kommt zwar auf der Bühne wie alle Militärs schwerfällig, klotzig und gefährlich daher, allein es fehlt ihm am Kasernenhofton, da schmettert und bellt nichts, dieser Wolf hat Kreide gefressen.

Simplicius aber flieht in den wilden Wald, zu einem Eremiten, der ihn erst Beten, dann Schreiben lehrt. Claus Gerstmann leiht dem Asketen seine Prophetenstimme, die bei der Intonation von „Gott, Gott“ so hörbar in inbrünstig zitternde Ekstase fällt. Später dann erscheinen die Wölfe der Zivilisation beim Bankett des Gouverneurs. Hier herrscht Dekadenz, wie man sie sonst nur im Schlaraffenland vermutete: Lang zu mampfen und saufen, ein Haufen Girls, zotige Redebeiträge, liebestolles Rumkugeln. Das Geschehen wird nun etwas unmotiviert vorwärtsgeschubst. Der Tod verteilt ein Gift und stört die Party, die Gäste meucheln einander. Totentanz.

Man tut gut daran, Hartmanns Situation mitzudenken und das Bühnengeschehen allegorisch rückzubeziehen. Mittels Zitat ist eine semantische Schicht in die Oper eingezogen, die sich als Chiffre herauslesen läßt. Wenn etwa in der Zwischenaktmusik der Bach-Choral „Nun ruhen alle Wälder“ erklingt, der das Kernstück der „Johannes-Passion“ ist, hört man den Text „Wer hat dich so geschlagen“ mit – ein Hinweis, Simplicius als Passion aufzufassen, als Leidensweg der Erkenntnis. Indem er die Musik seiner Zeit aufgenommen hat, die Modetänze der 20er und 30er Jahre, den Jazz oder das archaische Barbaro in seiner leidenschaftsgeladenen Ausdrucksmusik verschmilzt, betont Hartmann die Gier nach dem Leben noch im Untergang. Als wichtigstes Element, und geradezu handlungstragend eingesetzt, stellt sich der Gebrauch von Marschrhythmen dar, deren Bandbreite vom Duktus der Arbeiterkampflieder bis zu den teuflisch-grotesk verschobenen Stolperrhythmen in Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ reicht. Märsche, das ist Kampf, sei es eine militärische Intervention, das Aufbegehren der Geknechteten oder das Haschen des Teufels nach der armen Seele.

Das Orchester der Berliner Kammeroper findet unter Brynmor Llewelyn Jones' energischem Taktschlag ohne weiteres zu den unnachgiebigen Rhythmen. Die gut intonierenden Streicher konkordieren mit dem Schlagzeug und spritzen Allegro agitato vorwärts, peitschen die Akzente, daß Farben und Motive nur so stieben. Selbst die Blechbläser bewältigen ihre intrigaten Passagen mit Anstand.

Das Schauspiel beginnt bereits während der Overtüre. Der Chor, ein Sprechchor, der das Geschehen bestimmt und stets präsent ist, wird von Regisseur Henry Akina in der Tradition des Totentanzes eingeführt, ein Figurenkabinett, das, behutsam modernisiert, Vertreter aller Stände umfaßt. Paarweise zugeordnet bilden sie einen Reigen – Kardinal und General, Advokat und Arzt, Bürgerliche und Unternehmer, Bauer und Arbeiterin, Punk und Flittchen: vom Tod persönlich dirigiert. Der Tod, ein prosperierender Unternehmer mit stilisierter Sense, ist ein Kriegsgewinnler, natürlich, dem zur Ergänzung der Würgeengel Sünde beigestellt ist – beides Figuren, wie Otto Dix sie gemalt hat. Die „Choreographie“ des Reigens ist in seltener Gründlichkeit von der Musik her konzipiert. Mit ritueller Genauigkeit konfigurieren sich die Figuren zu Bewegungsbildern wechselseitiger Bedrohung, Angriff und Gegenangriff, die in gegenseitiger Auslöschung gipfelt. Totentanz.

„Simplicius Simplicissimus“ von Karl Amadeus Hartmann. Regie: Henry Akina. Weitere Vorstellungen am 4., 5., 7. und 8. Mai im Hebbel-Theater, Berlin.