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„Ich habe nicht so viele Gewißheiten“

■ Der SPD-Vize Wolfgang Thierse wehrt sich gegen eine Vorverurteilung Stolpes

13. 4. 1994

Lieber Jürgen Fuchs,

leider habe ich Ihre Faxe erst in dieser Woche, nach Rückkehr von einer 14tägigen Auslandsreise, lesen können. Ich konnte also nicht früher reagieren.

In der Sache selbst – das wird Sie nicht überraschen – hätte ich sehr gezögert und den Brief wohl nicht mitunterzeichnet. Das hat nichts mit einer etwaigen „Parteiraison“ zu tun, wie ich Sie mir zu glauben bitte. Vielmehr: Ich habe nicht so viel Gewißheit(en) wie Sie und die anderen Unterzeichnenden.

Mein Schuldspruch steht noch nicht fest. Ich habe generell Schwierigkeiten, mich an öffentlichen Vorverurteilungen zu beteiligen. Nur allzu selten wähne ich mich im Besitz der ganzen Wahrheit.

Vielleicht hat das biographische Ursachen: Ich bin als Sohn eines Rechtsanwalts (der ein mutiger und aufrichtiger Mann war) von Kindesbeinen an mit den Niederlagen meines Vaters in politischen Prozessen aufgewachsen. Es reichte die politisch begründete Beschuldigung, Beweise und unabhängiges Urteil waren für die Schuldsprüche nicht nötig. Die Bitterkeit solcher Niederlagen, in der vielmaligen Trauer meines Vaters widergespiegelt, machte mich immun gegen realsozialistische Verführungen und erzeugte bei mir eine fast unstillbare Sehnsucht nach Rechtsstaatlichkeit. Deren wichtigster Grundsatz heißt: Erst wenn Schuld wirklich bewiesen ist, ist jemand schuldig und zu verurteilen. Bis dahin hat die Unschuldsvermutung zu gelten, ebenso der Satz: „Im Zweifel für den Angeklagten.“ Ich hoffe und wünsche sehr, daß diese elementaren Grundsätze auch auf Politiker Anwendung finden dürfen.

Sosehr und so gründlich also Sie und andere von der Schuld Stolpes subjektiv überzeugt sind und diese Überzeugung in öffentlichen Schuldsprüchen bekunden, sowenig können, ja dürfen diese doch den objektiven Beweis (oder das subjektive Schuldeingeständnis des Beschuldigten) ersetzen!

Wenn dies nicht mehr gälte, würde mir angst.

Ich bitte Sie, lieber Jürgen Fuchs, mich darin zu verstehen. Es ist für mich eine Frage sehr grundsätzlicher Natur und eben nicht parteitaktischer Art.

Es täte gut, wenn wir einmal in Ruhe reden könnten, allerdings hoffentlich nicht nur über das Stolpe-Thema, das entzweit, sondern über Themen, die uns beide einigen (und von denen ich meine, daß es viel mehr sind).

Mit herzlichem Gruß

Ihr Wolfgang Thierse

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