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„Wo angekommen?“

■ Für den Schriftsteller Jürgen Fuchs hat Stolpe seine Glaubwürdigkeit verspielt / Meinungen sollten nicht über Fakten regieren

17. 4. 94

Lieber Wolfgang Thierse,

danke für Ihren Brief v. 13. April. Als wir uns vor einiger Zeit einmal im Flugzeug trafen und etwas länger über verschiedene Probleme sprachen, erläuterten Sie mir Ihre Haltung zu Stolpe. Sie hat sich, wie ich sehe, auch in der Zwischenzeit nicht verändert.

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Natürlich berührt mich, was Sie über Ihren Vater schreiben. Diese „fast unstillbare Sehnsucht nach Rechtsstaatlichkeit“ habe ich auch. Danach, daß nicht ständig Meinungen über die Fakten (und die Realität) herrschen. Danach, daß nicht schon wieder Angst die beherrscht, die von der Akteneinsicht in der Normannenstraße kommen und sich fürchten, Hauptamtliche und IMs des MfS mit dem zu konfrontieren, was sie gerade schwarz auf weiß und mit Namen, Datum und Unterschrift gelesen haben. Wenn die auch in den politischen Parteien sind und Karriere machen, werden sie mich fertigmachen, höre ich oft. Wer hat Geld für einen Anwalt? Wer hat die Nerven, solch ein hartnäckiges Abstreiten durchzuhalten? Oft sind es ja ältere Bürger, die mit den Machenschaften von Observation und „Zersetzung“ in Berührung kamen. Und ganz nebenbei, lieber Wolfgang Thierse, ich habe auch einen Vater, eine Familie. Mein Vater ist fast 80, er war Elektriker. Kein Nazi, nie in einer Partei, immer gearbeitet. Der schüttelt nur den Kopf, wenn er Herrn Dr. Stolpe im Fernsehen sieht. Sein selbstsicheres, selbstgerechtes und taktierendes Auftreten stoßen ihn ab. Es ist ja auch kein Strafprozeß, der läuft. Hier hat sich einer heimlich viele Male mit dem verhaßten Geheimdienst getroffen und will jetzt weiterhin Ministerpräsident sein. Dazu noch unterstützt von der SPD! Als ich 1978 im Knast saß bei der Stasi in Hohenschönhausen, hat mein Vater als Arbeiter um meine Freilassung gekämpft. Er wollte, das ist aktenkundig, auf einem Stuhl vor dem ZK-Gebäude sitzen und protestieren. Briefe schrieb er, verwies auf die chilenischen Gefangenen, für die sich das ND einsetzte. Er fragte, was mit den politischen Gefangenen in der DDR sei. Als sie mich nach dem Westen rausfuhren ohne Staatsbürgerschaft, standen meine Eltern im Besucherzimmer des Generalstaatsanwalts, wollten mich noch einmal sehen. Dies wurde ihnen verweigert. Auch dieser Vater empfand die „Bitterkeit solcher Niederlagen“.

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Viele Jahre war ich immer wieder im Gespräch – auch – mit Politikern der SPD. Es gab ja immer wieder Unterstützung für die DDR, Bücher, Schreibmaschinen ... auch der Meinungsaustausch mit der Opposition der „Charta 77“ und von „Solidarnosc“ fand zum Teil in Räumen der Friedrich- Ebert-Stiftung statt. Es war meist ein vorsichtiges Gespräch – einige Politiker und Freunde der Grünen waren da viel direkter und leidenschaftlicher, auch sehr mutig im „kleinen Grenzverkehr“ – , aber falsch und verlogen war das nie. Als ich 1989 von einigen in der Parteispitze gefragt wurde, wie ich die SDP finden würde, habe ich dringend zugeraten, sehr schnell einen guten Kontakt herzustellen. Herr Böhme war IM, ich traute ihm im übrigen nie, aber da waren ja noch Martin Gutzeit, Markus Meckel, Angelika Barbe, Steffen Reiche ... weder Parteivorsitzende noch MdB waren sie zu dieser Zeit! Walter Momper und andere wollten lieber weiter mit der SED sprechen, sie fürchteten sich, in eine Eiszeit reinzugeraten mit dieser authentischen Opposition ... und heute? Wenn ich Ihnen, lieber Thierse, ehrlich und öffentlich sagen sollte, was ich in Telefongesprächen hörte zum Thema Stolpe, „Ja-nichts-dagegen-Sagen“, „Parteiräson“ und so weiter, müßten Sie doch ein wenig Schlucken, denke ich: Und das finde ich sehr schlimm, dieses Ducken ist offenbar schon wieder im Kommen, das Taktieren, das Terminieren, wann man was sagen kann usw. Und das bei frei gewählten Abgeordneten, in der Regel mutigen Leuten, wenn ich an die aus den neuen Bundesländern denke ...

In Ihrem Brief werfen Sie mir vor, zu viele „Gewißheiten“ zu haben. Nein, das kann ich nicht annehmen. Ein kurzer Blick in meine Bücher könnte deutlich machen, daß hauptsächlich Fragen, Widersprüche und abhanden gekommene „Gewißheiten“ meine Person ausmachen. Gerade in der Freundschaft mit Manès Sperber, Heinz Brandt, Robert Havemann, Wolf Biermann und Ralph Giordano wurde Kindern der DDR wie mir deutlich, wie wichtig es ist, totalitärer Macht entschieden entgegenzutreten und den Zweifel zu bejahen. Sperber nannte es einmal, den Schritt ins Ungewisse zu wagen, ohne sicher zu sein, daß da eine Brücke ist. Um ein ähnliches Verhalten, lieber Wolfgang Thierse, bitte ich Sie heute. Ich werfe Ihnen nicht vor, in keiner Zelle gesessen zu haben, keine Ausbürgerung erlebt zu haben, keine Aussperrung aus dem Zuhause bis Ende 89, aber ich denke, Sie haben doch eine Verpflichtung, wenn Ihnen das erspart blieb: Verteidigen Sie bitte Leute wie mich gegen Äußerungen von Manfred Stolpe. Im Tagesspiegel von heute lese ich auf der Potsdam-Seite: „Die Schlammschlacht tobe bereits, meinte Stolpe. Es gehe der CDU, gekauften Leuten und einigen Meinungsmachern darum ,die SPD um einen Kopf kürzer zu machen, und zwar um meinen!“ Ja, ich polemisiere gegen Stolpe. Aber was für eine Häme, was für eine Unterstellung, von „gekauften Leuten und Meinungsmachern“ zu sprechen, die „die SPD um einen Kopf kürzer machen wollen.“

In den letzten Tagen haben sich viele öffentlich geäußert und mitgeteilt, daß ihnen die Wahrheit wichtiger ist als Wahl- und Machttaktik. Sie nannten die Vorgänge um Manfred Stolpes IM-Tätigkeit (vor allem um die vielen heimlichen Treffs mit dem MfS) ein „Vernebeln“, von einer Atmosphäre der Lüge und Täuschung war die Rede. Zu den Stolpe-Kritikern, die heute als „gekaufte Leute und Meinungsmacher“ diffamiert werden, gehören u.a. Rudi Pahnke, Ulrich Kasparick, Ehrhardt Neubert, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Hans-Joachim Maaz, Rainer Eppelmann, René Böll, Henryk M. Broder, Katrin Eigenfeld, Michael Wolffsohn, Herta Müller, Jan Faktor, Martin Gutzeit, Brigitte Seebacher-Brandt, György Dalos, Günter Kunert, Bernd Rabehl, Anette Simon, Ralph Giordano, Bettina Wegner ... Überall steht heute groß berichtet: „Stolpe und Thierse auf den Listenplätzen 1“. Gewiß, es wäre schön, einmal in Ruhe reden zu können, es gibt auch viele Themen, bei denen Gemeinsamkeiten existieren. Aber richtig ist auch: „das Stolpe-Thema entzweit.“ Mir wird angst, daß ausgerechnet eine bei den Nazis und den Stalinisten verbotene Partei wie die SPD einen IM als Ministerpräsidenten stützt und schützt.

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Und eine letzte Bemerkung: Rechtsanwälte wie Vogel, Gysi, Schnur, de Maizière – auch ehemalige Kirchenjuristen wie Stolpe – sollten nicht anmaßend sein und als Helfer über die politischen Häftlinge der EX-DDR bestimmen wollen. Wer viele Jahre heimlich mit der Stasi redete, verliert Vertrauen, wenn's rauskommt. So einer kann sich selbstverständlich als Tausendsassa fühlen, Ministerpräsident werden und vielleicht noch höher aufsteigen. Wähler finden sich, in den Zellen saß eine Minderheit. Nur eines hat er verloren: seine Glaubwürdigkeit. Die politischen Häftlinge Klier und Hirsch haben sie ihm entzogen mit gutem Grund. Dagegen kann man nix machen. Da hilft kein gewiefter Pressesprecher, kein überlegenes Auftreten im Fernsehen auf Listenplatz 1 mit nur vier Gegenstimmen. Das ist ein eher leiser, trauriger Vorgang von Enttäuschung und Abwenden, was freilich Folgen haben wird früher oder später. In Potsdam später.

Ich hatte schon Anfang der achtziger Jahre massive Zweifel an der Ehrlichkeit der Helfer-Kontakte von Schnur und Stolpe, als ich nämlich politische Häftlinge und Ausgebürgerte im Westen ankommen sah und ihren Berichten zuhörte. Meist hatten sie Fragen und ein ungutes Gefühl, jetzt sind einige wichtige Dokumente hinzugekommen. „Im Zweifel für den Angeklagten“, gewiß, wenn es um Strafe geht. Aber wir sind ganz im Zivilen, Gesellschaftlichen, Politischen. Da heißt Ihr Eintreten zur Zeit: Im Zweifel für Stolpe, gegen die Berichte, Anfragen und Fakten der in der DDR politisch Verfolgten. Das sind dann „gekaufte Leute und Meinungsmacher“? Sehen Sie, wo wir angekommen sind, Wolfgang Thierse?

beste Grüße! Ihr J. Fuchs

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