: Vierzig Jahre Treue zum Staat
In Ägypten wird ein neues Gewerkschaftsgesetz vorbereitet / Streik auf dem Papier erlaubt / Regierung fürchtet den Einfluß der Islamisten ■ Aus Kairo Karim El-Gawhary
Als den ägyptischen Arbeitern im 29. Regierungsjahr von Ramsis III. für neun Tage ihre Essensrationen vorenthalten wurden, zogen sie in den Streik, verließen mit ihren Frauen und Kindern die Totenstadt in Richtung der Tempel und blieben dort so lange, bis die Priester und Pharao die Kornspeicher für die Arbeiter leeren ließen.
3.000 Jahre später ist die Anwendung dieses Mittels im Land am Nil offiziell verboten. Das soll sich nun ändern. Den Nachfahren der Pharaonen steht ein neues Arbeitsrecht ins Haus. Nachdem das Land jahrzehntelang von einem inzwischen uneffektiv gewordenen staatlich gelenkten nasseristischen Entwicklugnsmodell beherrscht wurde, werden nun die Weichen für eine Neuregulierung der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern gestellt. Im Zuge der von IWF und Weltbank geforderten Privatisierung der Wirtschaft soll mit dem Arbeitsrecht eine der letzten „sozialistischen“ Bastionen der Nasser-Zeit zu Fall gebracht werden.
Bisher genießen die ägyptischen Arbeiter noch immer Arbeitsplatzgarantien und Sicherheiten, von denen ihre westlichen Kollegen nur träumen dürften. Als Preis dafür müssen allerdings die fünf Millionen Gewerkschaftsmitglieder ihrem staatlichen Beschützer huldigen, und auf Streik steht bis heute Gefängnissstrafe.
Das jetzt diskutierte Streikrecht hat für die Arbeiter allerdings seinen Preis. Die potentiellen Besitzer des demnächst zum Verkauf anstehenden, aufgeblähten und ineffektiven öffentlichen Sektors sollen nun wie alle anderen Unternehmer großzügig entlassen dürfen. In Detailfragen herrscht allerdings bisher, zumindest in der Öffentlichkeit, Verwirrung. Das Arbeitsministerium behandelt die Entwürfe zum neuen Gesetz als geheime Verschlußsache. Selbst über das Papier, mit dem man unlängst zur International Labour Organisation (ILO) nach Genf zog, möchte sich Khalid Taher, ehemaliger Staatssekretär im Ministerium und heute dessen Berater, nicht genauer äußern. Er gilt als einer der Väter des neuen Gesetzes. Es werde ein Minimum an Einschränkungen geben, der Rest werde den kollektiven Verhandlungen zwischen Arbeiter- und Unternehmervertretern überlassen, erläutert er die Grundidee.
Der Rückzug des Staates aus der Beziehung zwischen Arbeitern und Unternehmern also? So zumindest wünscht es sich die Unternehmerseite. Adel Gazarin, der Vorsitzende des ägyptischen Industrieverbandes, fordert ein „flexibles Gesetz mit möglichst wenig Einflußnahme des Staates“. Die ganze Kontroverse um das zukünftige Gesetz überrascht ihn. Nur schlechte und faule Arbeiter sollten sich seiner Meinung nach darüber Sorgen machen.
Der Anwalt und Arbeitsrechtler Nabib Al-Hilali sieht das anders. Er fürchtet, daß die Arbeiter den kürzeren ziehen. Einem ihm zugespielten Entwurf zufolge, steht die Tür für Entlassungen, bisher nur bei schwerwiegenden Verstößen möglich, den Unternehmern nun weit offen. Arbeitsgerichtsprozesse werden teurer, die Lohnfortzahlung während solcher Verfahren kürzer. Das Streikrecht, das den Arbeitern im Gegenzug gewährt werden soll, stehe dagegen nur auf dem Papier. Die im Entwurf aufgeführten Einschränkungen heben es, so Al-Hilali, praktisch auf.
In „lebenswichtigen Institutionen“ soll das Streiken weiterhin verboten sein. Es bleibt dem Ministerpräsidenten überlassen, diese Bereiche zu definieren. Das kann dem 70jährigen Abdel Monem Al- Ghazali, bekannt für seine zahlreichen Veröffentlichungen über die ägyptische Arbeiterbewegung, nur ein müdes Lächeln entreißen. Auch die anderen Gewerkschaftler, mit denen er sich regelmäßig in einem Straßencafé im Zentrum Kairos trifft, sind keine Rechtsfachleute, dafür aber ein Stück Gewerkschaftsgeschichte. Sie erinnern sich noch lebhaft an die dreißiger Jahre. Damals bestimmte der Verteidigungsminster die lebenswichtigen Institutionen, in denen Streik tabu war. Al-Ghazali zählt aus dem Gedächtnis die zehn lebenswichtigsten Bereiche von damals auf. Praktisch umfaßten sie die gesamte ägyptische Industrie.
Doch das eigentliche Problem der Arbeiter ist ihre eigene Vertretung: Seit vierzig Jahren sind die Gewerkschaften in das korporative Staatssystem eingebunden. Auch wenn Funktionäre immer wieder die Unabhängigkeit vom Staat betonen und sich gegen den Vorwurf wehren, Hausgewerkschaftler zu sein: das Gros der Gewerkschaftsführung besteht aus Mitgliedern der regierenden Nationalpartei. Einige von ihnen sitzen im Parlament. Als etwa 1986 die Eisenbahner in den Ausstand traten, rief der verantwortliche Gewerkschaftsvorsitzende persönlich den Ministerpräsidenten dazu auf, mit eiserner Faust dagegen vorzugehen.
Nach dem neuen Gesetzentwurf muß eine Zweidrittelmehrheit des Vorstandes der jeweiligen Branchengewerkschaft einem Streik zustimmen. Damit, darüber sind sich der Anwalt Al-Hilali und der alte Gewerkschaftskritiker Ghazali einig, ist die Tür zum Arbeitskampf verschlossen. „Der Staat wird sich nicht aus dem Bereich der organisierten Arbeiterschaft zurückziehen. Seit der Julirevolution unter Nasser ist es eines der Hauptziele in der Philosophie der Regierung, die Gewerkschaften unter ihrer Kontrolle zu halten“, glaubt Magdi Hilmi, der für die Oppositionszeitung der liberalen Al-Wafd-Partei seit Jahren über Gewerkschaften berichtet. Mit der Privatisierung und Liberalisierung der Wirtschaft kann diese Hochzeit zwischen Regierung und Gewerkschaften fatale Folgen haben. Die Gewerkschaften bleiben weiter vom Staat kontrolliert, der aber die alten Garantien für die Arbeiterschaft aufkündigt.
In dem jetzigen politischen Klima sei es weltfremd zu erwarten, meint Al-Hilali, daß sich die Gewerkschaften in eine demokratische und unabhängige Bewegung verwandeln. Auch Gamal Fahmi, Redakteur der nasseristischen Wochenzeitung Al-Arabi, sieht in der allgemeinen politischen Situation eines der Haupthindernisse für eine effektive Gewerkschaftsbewegung: „Wie soll man hier eigentlich streiken, wenn jegliche Demonstration verboten ist und im ganzen Land der Ausnahmezustand herrscht?“
„Wer streikt, wird kriminalisiert“, glaubt der Schweißer Kamal Abbas. Er war vor fünf Jahren einer der Anführer eines illegalen Streiks im 21.000 Arbeiter zählenden Stahlwerk von Helwan. Abbas bezahlte sein Engagement gegen den Willen der Gewerkschaften und der Regierung mit drei Monaten Gefängnis und wurde anschließend als Aufwiegler aus dem Betrieb strafversetzt. Seiner Meinung nach haben die Gewerkschaften in ihrer heutigen Form keinerlei Vorstellung von Verhandlungsführung. Dem stimmt auch Gamal Al- Banna, der Bruder des Gründers der Muslimbrüderschaft und heutige Vorsitzende der Internationalen Islamischen Föderation der Arbeit (International Islamic Confederation of Labour) zu. „Die Gewerkschaften“, so Al-Banna, „können heute keinen Streik organisieren.“ Sie hätten keinen Streikfonds und keine Ahnung von Streikbrechern oder der Mobilisierung von Sympathisanten.
Im „Haus der Dienstleistungen für Gewerkschaftler“, einer vor wenigen Jahren in der Stahlstadt Helwan gegründeten unabhängigen Institution, versucht man, sich auf die neue Situation einzustellen. In Rollenspielen wird die kollektive Verhandlungsführung zwischen Gewerkschaften und Unternehmen geübt. Alte Gewerkschaftler aus den vierziger Jahren beraten jüngere Teilnehmer. „Bis allerdings solche parallelen unabhängigen Organisationen tatsächlich eine wichtige Rolle spielen, dürften noch weitere zwanzig Jahre vergehen“, meint der Journalist Hilmi skeptisch.
Der Staat und die Gewerkschaftsführung haben noch ein anderes Argument, warum sie von einer Scheidung vorläufig absehen: die islamistische Bedrohung. Das neue Gesetz verhindere, daß die Gewerkschaften zum Spielball „extremistischer Kräfte“ werden, läßt der Vorsitzende der Gewerkschaftsföderation, As-Sayyed Rashid, verlauten. Ein prominentes Mitglied der islamistischen Bewegung, der Vorsitzende des Anwaltsvereins Seif Islam al-Banna, küngigt an, die Islamisten würden ihre Aktivitäten nun auf die Gewerkschaften konzentrieren. Das Schema ist bewährt: Islamisten bieten billige Dienstleistungen an. So organisieren sie etwa Möbelausstellungen für die Stahlarbeiter in Helwan, in denen billig eingekauft werden kann – für manche die einzige Möglichkeit, sich eine Wohnungseinrichtung anzuschaffen, um damit eine traditionelle Heiratsbedingung zu erfüllen.
Bisher scheint die Rechnung noch nicht aufgegangen. Die Islamisten kontrollieren nur 30 der 15.000 Betriebskomitees im Land. Doch der Journalist Hilmi geht davon aus, daß sich diese Zahl bei den nächsten Betriebsratswahlen verhundertfacht. Unterdessen machen sich die Islamisten auch das Thema der Arbeitsgesetzgebung zu eigen. „Es ist das erste Mal, daß wir die Linken im Bereich der Arbeiter mit unseren Veranstaltungen und Medien überholt haben“, jubelt Qutb Al-Arabi, Redakteur der islamistischen Oppositionszeitung As-Shaab.
Unwahrscheinlich, daß die Regierung in dieser Situation die Gewerkschaften aus ihrer Obhut entläßt. Mit den zu erwartenden Massenentlassungen beim Verkauf des öffentlichen Sektors wird der soziale Unfriede weiter eskalieren. Es bleibt abzuwarten, wohin sich der Ärger der Arbeiter ohne eine effektive Gewerkschaftsbewegung dann kanalisieren wird. Denn das ist eine der Weisheiten von Al- Ghazali und den alten Gewerkschaftlern im Café im Zentrum Kairos: Gestreikt wurde immer, ob verboten oder eingeschränkt. Die Arbeiter im 29. Regierungsjahr von Ramsis III. haben den Pharao sicherlich auch nicht um Erlaubnis gefragt.
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