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Mit dem Aufzug in den Eurostar

■ Der Tunnel unter dem Ärmelkanal, der heute mit viel Pomp eröffnet wird, soll die nordfranzösische Stadt Lille, die durch den Hochgeschwindigkeitszug TGV mit Paris, Brüssel und London verbunden wird, ins...

Der Tunnel unter dem Ärmelkanal, der heute mit viel Pomp eröffnet wird, soll die nordfranzösische Stadt Lille, die durch

den Hochgeschwindigkeitszug TGV mit Paris, Brüssel und London verbunden wird, ins 21. Jahrhundert katapultieren

Mit dem Aufzug in den Eurostar

Das Ereignis war eine Inschrift wert: „Für die offizielle Verkündung des Projekts einer Landverbindung zwischen Großbritannien und Frankreich wurden Francois Mitterrand, französischer Staatspräsident, und Margaret Thatcher, britische Premierministerin, in diesem Rathaus empfangen“, steht auf der Steintafel in der riesigen Eingangshalle des Rathauses von Lille. Als Zeuge zeichnete Pierre Mauroy, seit zwei Jahrzehnten Bürgermeister der nordfranzösischen Stadt. Für den Sozialisten, Anfang der achtziger Jahre auch Ministerpräsident, ging an diesem 20. Januar 1986 ein Traum in Erfüllung. Denn der Kanaltunnel, der heute feierlich eröffnet wird, soll die gemütliche Stadt mit den roten Backsteinhäusern zur „europäischen Metropole“ machen, zum Verkehrsknotenpunkt zwischen Paris, London und Brüssel, zur Station auch für Reisende aus Köln, Frankfurt und Amsterdam.

Nachdem die „Landverbindung“ nach England endlich beschlossene Sache war, stürzten sich Politiker und Unternehmer in ein Abenteuer, das Lille „ins 21. Jahrhundert“ katapultieren soll. Sie entwickelten ein gigantisches Projekt zum Bau eines Büro- und Geschäftszentrums – „Euralille“ heißt die Zauberformel, die der Stadt eine glänzende Zukunft bescheren soll. Ersteinmal mußten die Stadtoberen den Hochgeschwindigkeitszug (TGV) ins Zentrum locken, den die Eisenbahngesellschaft SNCF eigentlich um die Stadt herumführen wollte. Mauroy rechnet mit „30 Millionen Reisenden“ im Jahr, und die sollen nicht einfach an Lille vorbeirauschen.

Die Größe der Stadt – in Lille und den 86 umliegenden Kommunen leben 1,1 Millionen Menschen – sprach für einen Halt. Den Ausschlag gab dann, daß ein 70 Hektar großes brachliegendes Gelände aus Armeebesitz zur Verfügung stand. Das Terrain liegt gleich neben dem alten Hauptbahnhof und 800 Meter vom alten Stadtkern mit seinen stuckverzierten Häusern entfernt. Auf der anderen Seite grenzt es an einen Stadtpark mit Musterbauernhof. Nur der Park mußte verkleinert, kein Besitzer enteignet, kein Haus zerstört werden, um das Projekt zu verwirklichen. Die SNCF willigte ein. Und so kann der Präsident heute auf dem Weg zur Queen den neuen Bahnhof einweihen.

Von Euralille dürften Francois Mitterrand allerdings nur Baukräne und ein paar Rohbauten in Erinnerung bleiben, die in die Höhe streben. Ein Plakat verspricht hier „das 21. Jahrhundert im Bau“, die höchsten Bauten mit 20 und 25 Etagen erheben sich auf Stelzen über dem neuen TGV- Bahnhof mit seinem geschwungenen Dach. Auf staatliche Anweisung haben hier nationale Unternehmen investiert, allen voran der Credit Lyonnais und die Versicherungsgesellschaft UAP. Sie werfen vom kommenden Jahr an 45.000 Quadratmeter Bürofläche auf den Markt, die Euralille zum „internationalen Geschäftszentrum“ machen sollen. „Die Mieten sind dreimal niedriger als in Paris, London oder Brüssel“, wirbt Francois Pelletier, Kommunikationsdirektor von Euralille. Außerdem sei die Infrastruktur unübertroffen: „Mit dem Aufzug in den ,Eurostar‘“ – so der Name des Schnellzuges, der die Strecke zwischen Paris und London mal in drei Stunden bewältigen soll –, wo gibt es das sonst? Ein riesiges Handelszentrum, ein Kongreßpalast mit integrierten Konzert- und Ausstellungshallen, demnächst noch ein Vier-Sterne-Hotel und ein paar Wohnungen – gerade mal 168 – runden das neue Viertel ab. „Wir sorgen dafür, daß das Viertel auch nach Büroschluß lebendig bleibt. Deshalb werden später noch 700 Wohnungen hinzukommen“, verspricht Pelletier.

Bereits seit einem Jahr rauscht der TGV mit 300 Stundenkilometern in nur einer Stunde von Paris nach Lille. Damit ist die Stadt zum Pariser Vorort geworden, brauchen viele Hauptstädter für ihren Weg zur Arbeit doch genauso lang. In gut zwei Jahren soll die Verbindung nach Brüssel fertiggestellt sein, das dann nur noch 25 Minuten entfernt liegen wird. Nach London wird es – allerdings frühestens ab 2002, wenn die 110-Kilometer- Hochgeschwindigkeitstrasse vom Bahnhof Waterloo nach Folkestone benutzbar ist, nur noch zwei Stunden dauern. „Wir rechnen damit, daß in drei Jahren täglich über 100 TGVs durch Lille fahren“, sagt Pelletier, und jeder zweite Zug solle dann auch anhalten.

Ob Euralille wirklich so attraktiv sein wird, daß es Firmen und Reisende aus ganz Nordeuropa anlocken kann? Konservative und Grüne sind skeptisch. „Ich kenne kein privates Unternehmen und erst recht keine internationale Firma, die sich dort freiwillig niederlassen will“, sagt der konservative Senator Alex Turk, der nächstes Jahr das Rathaus erobern will. „Büros und Verkehrsverbindungen allein schaffen doch keine Arbeitsplätze.“ Turk läßt auch den angeblich so niedrigen Mietpreis nicht gelten, da darin die extrem hohen Nebenkosten der Türme nicht berücksichtigt seien. Wie Turk hatten auch die Grünen im Stadtrat gegen Euralille gestimmt und sich statt dessen für ein bescheidenes Projekt ausgesprochen, das der wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt hätte angepaßt werden können. „Doch Mauroy wollte unbedingt Dynamik beweisen. Ich denke, Euralille wird eher zu einem Transfer von Firmen aus der Region führen, als neue Arbeitsplätze schaffen“, meint der Grüne Dominique Plancke, der erst vor einem Jahr von seinem Posten als stellvertretender Bürgermeister zurückgetreten ist. Erfolg hin oder her, eines hat das Stadtoberhaupt schon jetzt geschafft: Mauroy hat sich mit dem unübersehbaren Fremdkörper inmitten der alten Stadtviertel ein Denkmal gesetzt. Den drei Kühen auf der Wiese des Musterbauernhofes, denen die Hochhäuser vor die Nase gesetzt wurden, wird es ohnehin schnuppe sein, ob in den Büros auch gearbeitet wird. Bettina Kaps, Lille

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