: Persisches Neujahrsfest 1373
Eindrücke vom vorislamischen Nowruzfest in einem Nobelhotel in Ramsar am Kaspischen Meer ■ Von Irene Schneider
Das iranische Fernsehen zeigt bunte Blumenbilder. Dazu getragene Musik. Es ist 22.30 Uhr am 20. März 94, Vorabend des persischen Neujahrs Nowruz. Kurz vor Mitternacht wird das neue Jahr 1373 anbrechen. Die Halle des noblen Ramsar-Hotels in Ramsar am Kaspischen Meer ist brechend voll. Junge und Alte sitzen in großen Familienclans um die niedrigen Tische herum und schwatzen trotz der ohrenbetäubenden Lautstärke des Fernsehers. Das alte, vorislamische Fest Nowruz konnte seinen Vorrang vor den religiösen islamischen Feiertagen wie dem Fest des Fastenbrechens nach dem Fastenmonat Ramadan auch in der Islamischen Republik Iran (IRI) behaupten. Im Gegensatz zum Ramadan orientiert es sich nicht am durch den arabischen Propheten Muhammad (st. 632) eingeführten Mondjahr, sondern am alten iranischen Sonnenjahr; aber es nimmt ebenfalls das Datum der Auswanderung des Propheten von Mekka nach Medina als Ausgangspunkt.
Auch hier, in dieser relativ modernen und ungezwungenen Hotelatmosphäre kriechen Frauen regelrecht in ihren Tschador hinein. Das traditionelle Kleidungsstück persischer Frauen ist ein langes, meist schwarzes Tuch, das noch über Kopftuch und Mantel getragen wird. Während jede Frau, die sich in der Islamischen Republik auf die Straße wagen sollte, Mantel oder ein weites Gewand tragen muß, ist der Tschador nur in einigen Moscheen und in den religiösen Zentren wie Qum und Maschhad ein Muß.
Die meisten der Frauen im Ramsar-Hotel sind aber „nur“ mit Mantel und Kopftuch bekleidet. Die Kopftücher scheinen gegenüber meinem letzten Iran-Aufenthalt vor eineinhalb Jahren bunter geworden zu sein, auf jeden Fall aber rutschen sie immer weiter zurück. Darunter kommen die sorgfältig frisierten und hochtoupierten, oft hellgefärbten Haare der Damen zum Vorschein, passend zu den geschminkten Gesichtern. Auch wenn die Frauen über Lautsprecher immer wieder aufgefordert werden, den hidschab-e islami, den „islamischen Schleier“, doch bitte zu beachten, werden in der fast familiären Atmosphäre des Empfangsraumes erste Lockerungen der strengen Vorschriften sichtbar – eine Chance für einige Iranerinnen, ihre Einschränkungen ein wenig zu durchbrechen.
Auch eine Krawatte ist zu sehen. Dieses Markenzeichen „westlicher Verkommenheit“ und „imperialistischen Einflusses“ war lange Zeit in der Islamischen Republik Iran verpönt. Auch heute ist die Krawatte nur selten auf den Straßen und nie in den Büros und Ministerien zu sehen. Statt dessen geht man mit offenem Hemdkragen und mit Dreitagebart, so wie es der Prophet in einem seiner normgebenden Aussprüche empfohlen haben soll. Die meist unrasierten Männer sind in ihrem wenig modebewußten Äußeren kein verführerischer Anblick. Gegenüber den eleganten Damen sind sie kaum in der Lage, die strengen Moralvorschriften ernsthaft zu gefährden.
Was haben die Iraner vom Neuen Jahr zu erwarten? Die wirtschaftliche Situation ist schlecht, die Inflation hoch. Bei einem Durchschnittseinkommen von umgerechnet 150 bis 200 Mark monatlich schlagen zwar die Kosten von Benzin (2 Pfennig pro Liter) und Fladenbrot (2 Pfennig pro Brot) noch nicht zu Buche, wohl aber die für Fleisch (1 Hähnchen etwa 4 Mark) und nicht subventionierte Lebensmittel (1 Kilo Orangen etwa 80 Pfennig) sowie die Mieten in den Ballungszentren. 30.000 Mark für den Kauf eines 80 Quadratmeter großen Appartements im Westen Teherans ist für viele unerschwinglich.
Das Hotel Ramsar liegt in einer der schönsten Landschaften Irans, in dem schmalen und sehr fruchtbaren Streifen zwischen dem Kaspischen Meer und dem Elburs-Gebirge. Wo früher im Sommer reger Badebetrieb herrschte, sind die Strände heute in Männer- und Frauenabschnitte getrennt, und Frauen können höchstens mit ihrer Kleidung ins Wasser gehen. Die Einheimischen klagen, daß kurz vor Neujahr und im Sommer, wenn die Teheraner massenhaft kommen, die Preise in die Höhe schnellen und die kleine Stadt aus den Nähten platzt. Im Hotel Ramsar kostet ein Doppelzimmer 30 Mark. Neben alteingesessenen Familien der Oberschicht, die nach der Revolution nicht ausgewandert sind, kommen nun auch Neureiche, vor allem aus dem Milieu der Bazarhändler, die an der Islamischen Revolution beteiligt waren.
Sie sind freundlich, die Mazanderanis, die Bewohner der Provinz Mazanderan, in der Ramsar liegt. Immer haben sie Zeit für einen Plausch auf der Straße, für eine Einladung zum Essen. Der Bazar, besonders der morgendliche Gemüse- und Obstmarkt mit üppigem Angebot, ist voll von Menschen. Zitrusfrüchte – seit kurzem auch Kiwis – Baumwolle, Tee, Reis und Seide sind die wichtigsten Produkte der Region. Daneben gibt es eine holzverarbeitende Industrie und Fischfang. Auf dem Markt arbeiten relativ viele Frauen als Verkäuferinnen, ein sonst im Iran seltener Anblick. Die Frauen dieser Gegend sind berüchtigt für ihre – gemessen an islamischen Vorstellungen – größere Freizügigkeit. Sie tragen ein buntes Tuch um die Hüften gewickelt, in dem sie ihr Geld verstauen und das – im Gegensatz zum kartoffelsackähnlichen Tschador – die Hüften betont. Viel zuviel hennagefärbtes Haar lugt unter ihren bunten Kopftüchern hervor, und sie begegnen dem Blick der Fremden freier. Sie verkaufen Berge von wunderbar duftendem sabzi, Grünzeug, also Petersilie, Basilikum, Schnittlauch – mit frisch gebackenem Fladenbrot und Fetakäse eine köstliche Vorspeise.
Die Bauern bewirtschaften ihre Reis-, Tee- und Weizenfelder und die Obstplantagen. Schon zur Zeit des Schahs wurde der Großgrundbesitz abgeschafft und den Bauern der Kauf von Land ermöglicht. Aufgrund der islamischen Erbteilung, die alle Familienmitglieder (auch die Töchter!) berücksichtigt, wird das Land für den einzelnen jedoch immer kleiner.
Wir fahren durch die wunderbare Landschaft von Lahidjan, 50 Kilometer nördlich von Ramsar. Die Gegend ist ein Erdbebengebiet. Beim letzten verheerenden Beben im Jahr 1990 starben 40.000 Menschen, die nicht sehr stabilen Häuser klappten reihenweise zusammen. „Man hat uns nichts geschenkt“, sagt der Taxifahrer zum Thema Wiederaufbauhilfe. „Die Leute haben eine ungeheure Wut im Bauch, aber was sollen sie tun?“ Unter dem dünnen Firnis seines Lächelns ist Resignation verborgen. Reisfelder ziehen sich in Terrassen entlang der Straße, ein grünes, sanft gewelltes Land erstreckt sich zwischen Meer und Elburs- Gebirge. Aber die Dörfer sind ärmlich. Die windschiefen Häuser drohen beim nächsten Sturm umzukippen, viele sind notdürftig geflickt, andere verlassen und als Ruinen dem Verfall preisgegeben.
Amlasch ist eine Kleinstadt in den Bergen. Die berühmten Amlasch-Keramiken aus der Zeit um 1000 v. Chr. sind in vielen Museen der westlichen Welt ausgestellt. Heute läßt der Ort nichts von der ruhmvollen Vergangenheit erahnen. Ein Teil der Hauptstraße mit den Geschäften bietet einen traurigen Anblick. Der romantische kleine Fluß, der durch den Ort sprudelt, ist voller Abfälle. Kein Haus ohne Löcher in den Wänden, ohne kaputte Fensterscheiben und Flickstellen. Aber in den Seitenstraßen, hinter großen Mauern verborgen, werden neue und stabile Häuser aus Ziegeln gebaut. Sie stehen so sehr im Kontrast zu den verfallenden Hütten, daß man sich über die Unmittelbarkeit der Existenz zweier solcher Welten nur wundern kann. Das Bürgermeisteramt ist neu getüncht, in einem Straßenrondell blühen Stiefmütterchen, und eine Teefabrik deutet auf zumindest einen Wirtschaftsfaktor des Städtchens hin.
Ein alter Mullah mit schwarzem Turban – als ein Nachkomme der Familie des Propheten – überquert die Straße. Der Taxifahrer, der aus seiner Abneigung gegen die Mullahs keinen Hehl macht, erzählt, daß dieser kürzlich seinen Sohn verloren habe: er wurde als Mitglied der verbotenen links-islamischen Volksmudschaheddin hingerichtet.
Trotz des – für iranische Verhältnisse – hohen Preises, auch im Hotel Ramsar zeigen sich die Spuren des Verfalls. Die Möbel sind abgewetzt, der Lack an den Türen blättert ab, die Schubladen sitzen schief in den Kommoden. Auf den Zimmern gibt es weder Radio noch Fernsehen. Auf Knopfdruck ertönt aus einem Lautsprecher immer nur die eine, nervenaufreibende süßliche Klaviermusik. Marg bar Rap steht an einigen Häuserwänden in Teheran: Tod der Rap-Musik!
Doch die freundlichen Kellner schreiten nicht ein, wenn man sich den im Land des Joghurts nicht organisierbaren Joghurt zum Frühstück selbst vom Markt mitbringt. Aber auch die größte Freundlichkeit nützt nichts, wenn das Licht nicht funktioniert und das Management sich als unfähig erweist, es reparieren zu lassen: Man sei von dem Nowruz-Ansturm, der pünktlich jedes Jahr hereinbricht, leider völlig überrascht worden. Der Blick auf das Kaspische Meer und die bewaldeten Hügel – eine Seltenheit im Iran – machen trotz dieser Mängel das Ramsar-Hotel immer noch zum allerersten Anziehungspunkt. „O Gott, o Gott, beschütze bis zum Erscheinen des Messias die Erneuerungsbewegung des Imam Chomeini“ steht über der Rezeption.
Nach dem Abendessen wird im Restaurant der sofre-ye haft sin, der „Tisch der sieben Dinge mit s“ aufgebaut. Auf einem solchen Neujahrstisch finden sich sieben Sachen zum Essen, die im Persischen mit „s“ beginnen: Äpfel (sib), Knoblauch (sir), Gras (sabzi), ein Gewürz (somak), Weizenbrei (samanu), Münzen (sekke)
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und Essig (serke). Daneben Weihrauch, Goldfische, Eier, Obst, einen Reisbrei, der mit Safran gefärbt ist und auf den mit Zimt die Namen der Imame Ali, Hasan und Husein gestreut sind. Am Kopfende des Tisches steht ein Bild von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten, dem – allein nach schiitischer Meinung – nach dem Tod des Propheten die Führerrolle der jungen muslimischen Gemeinde gebührt hätte.
Rechts von Ali ein Konterfei Chomeinis, links das Staatsoberhaupt Chamenei (der Nachfolger Chomeinis) und der Staatspräsident Rafsandschani.
Inzwischen ist es 23.30 Uhr. Die Gäste drängeln sich um den Tisch, machen Fotos mit und ohne Tisch, versuchen einen Platz zu ergattern, um auch den neben dem Kopfende (rechts neben Chomeini) aufgestellten Fernseher ins Visier zu bekommen. Mit Mühe und Not kämpfen wir uns zu den Plätzen in der zweiten Reihe durch. Neben uns läßt sich eine Großfamilie nieder. Als die Uhrzeiger auf Mitternacht vorrücken, stehen alle gedrängt um den Tisch und beobachten im Fernsehen den Ablauf des alten Jahres und den Beginn des Frühlings. Hören können wir nichts bei dem Gerede, Gelächter und Kindergeschrei.
Plötzlich laute Jubelrufe – ist das neue Jahr schon angebrochen? Aber was in aller Welt können sie jetzt tun, außer sich gegenseitig zu gratulieren? Die Mitglieder der Großfamilie neben uns stürzen mit einem Aufschrei auf den sofre-ye haft sin und beginnen diesen zu räubern. Siegreich tragen sie die Platten mit Reis- und Weizenbrei vor sich her, schleppen vollbeladene Obstschalen zu den wartenden Familienmitgliedern. Ein Tumult ist ausgebrochen, jeder versucht, von den begehrten Neujahrsgaben soviel wie möglich abzuschleppen. Jeder ruft dem anderen einen Neujahrswunsch entgegen und greift zugleich nach Äpfeln und Kuchen.
Eine Viertelstunde nach Anbruch des Neuen Jahres 1373. Die meisten Hotelgäste sind hinüber in den Empfangssaal gegangen. Zurück bleibt ein geräuberter Tisch mit Essensresten, schmutzigen Tellern, verstreuten Orangenschalen und Kürbiskernen auf dem Boden. Kopfschüttelnd nimmt ein Kellner eine halbe Schale Reisbrei und setzt sich müde hin. „So schlimm war es noch nie“, sagt er. Auf dem demolierten Neujahrstisch ist Rafsandschanis Bild umgefallen, aber niemand scheint es zu bemerken. Was wird das neue Jahr dem Land wohl bringen?
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