■ In Singapur wurde die Prügelstrafe an einem US-Bürger vollzogen – die Schläge galten auch der US-Gesellschaft
: Schuld, Sühne und Schläge: Die USA in einer law-and-order-Hysterie

Das Prinzip der Doppelbestrafung ist eigentlich rechtswidrig. Doch für Michael Fay ist die Tortur nach vier Stockschlägen im Queenstown-Gefängnis von Singapur nicht ausgestanden. Die zweite Strafe tritt er nach seiner Rückkehr in die USA an: Es lauern TV- Produzenten, die bereits das Drehbuch für eine amerikanisch-asiatische soap opera in der Tasche haben; es lauern Talkshow-Gastgeber, die aus seinem Munde hören wollen, wie es sich denn anfühlt, wenn ein geschulter Kampfsportler mit einem Rattanrohr die Haut zum Platzen bringt. Schlimmer noch: Es erwartet ihn ein Alltag inmitten vieler Nachbarn und Landsleute – allesamt Autobesitzer –, die in den letzten Wochen ihre gesamte Wut über abgebrochene Radioantennen, besprühte Karosserien und den Verfall der amerikanischen Gesellschaft auf sein Gesäß projiziert haben.

Es mag am betroffenen Körperteil liegen, daß viele Amerikaner die Prügelpraxis in Singapur mit einer Ohrfeige oder dem elterlichen Hinternversohlen gleichsetzen. Die Strafe, die in diesem kapitalistischen Musterländle und dieser verführerisch „sauber“ aussehenden „Erziehungsdiktatur“ mehrere tausend Mal pro Jahr vollstreckt wird, ist Folter – und wird von amnesty international auch als solche benannt.

Man wolle, so das singapurische Innenministerium als Rechtfertigung für die Stockhiebe, in Singapur keine Verhältnisse wie in New York aufkommen lassen.

Folglich waren die Stockschläge gegen Michael Fay auch als Hiebe gegen die amerikanische Gesellschaft gedacht: Die Prügelstrafe als Mittel gesellschaftlicher und kultureller Abgrenzung gegen die USA in einer Phase der ökonomischen Globalisierung. Der Kapitalismus ist eine erstrebenswerte Wirtschaftsform und die amerikanische Gesellschaft ein abschreckendes Beispiel, heißt die Devise.

Um Mißverständnissen vorzubeugen: Es gibt in den USA mindestens ebenso viele Menschen, die Peitschen- und Stockhiebe nicht für das geeignete Mittel zur Bekämpfung von Kriminalität halten und von der Hau-drauf-Mentalität ihrer Landsleute angewidert sind. Aber auch sie können nur hilflos feststellen, daß viele ihrer Landsleute in dieser jüngsten Welle der Kriminalitätshysterie Grundrechtskataloge als lästigen Papierkram betrachten, der bei Bedarf in der Schublade der Strafverfolgungsbehörden verschwindet. Die Bereitschaft, individuelle Rechte im Kampf gegen Gewaltkriminalität außer Kraft zu setzen, ist enorm gewachsen – auch unter der vermeintlich liberalen Clinton-Administration.

Gewaltkriminalität ist in den USA ein omnipräsentes Problem und derzeit Thema Nummer eins in den Medien, im Kongreß und im Weißen Haus. Statt einer nüchternen, kriminologischen und sozialpolitischen Diskussion spielt sich dort jedoch eine beispiellose PR-Schlacht um schärfere Gesetze, mehr Polizisten, mehr Gefängnisse, lebenslange Freiheitsstrafen und mehr Todesurteile ab – alles Maßnahmen, deren Wirkungslosigkeit von unzähligen Experten attestiert, und deren Unmenschlichkeit von denselben Menschenrechtsgruppen beklagt wird, die in Singapur gegen die Prügelstrafe protestieren.

Inmitten dieses law-and-order-Getrommels gehen sogar die Stimmen der FBI-Statistiker unter, die unlängst festgestellt haben, daß Gewaltkriminalität in den letzten Jahren nicht zu-, sondern abgenommen hat. Andrea Böhm, Washington