: Lebensläufe über alle Berge
■ Ein neues Buch aus dem Verlag „Zeichen und Spuren“ über Künstlerinnen im Exil
Was reichte, um in Nazideutschland auf Hitlers „Schwarze Listen“ zu kommen, das reichte nach 1945 noch lange nicht, um Gegenstand umfassender Studien zu werden. Die Werke waren nicht mehr da, die KünstlerInnen ins Ausland vertrieben. Wie es ihnen dort erging, blieb hierzulande eigentlich bis ins letzte Jahrzehnt weitgehend unerforscht; man interessierte sich, was das Phänomen des Exils betrifft, gerade noch für die Literatur. Der Bremer Verlag Zeichen und Spuren hat jetzt ein Buch veröffentlicht, welches sich mit dem Phänomen Exil sehr umfassend und in seinen sozialgeschichtlichen Zusammenhängen beschäftigt: Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Künstlerinnen der zwanziger und dreißiger Jahre/ hrsg. von Denny Hirschbach und Sonia Nowoselsky.
Das Buch basiert auf der Vortragsreihe „Denn Bleiben ist nirgends“, die 1991 von den Zeichen und Spuren-Mitarbeiterinnen initiiert wurde und im Februar diesen Jahres ihren Abschluß fand. GermanistInnen, SoziologInnen und KunsthistorikerInnen haben dafür die Geschichten von Frauen ausgegraben, die Anfang des Jahrhunderts in Deutschland künstlerisch aktiv waren und von den Nazis aus dem Land und in die Vergessenheit verbannt wurden.
All diese Beiträge verbindet das Interesse daran, welche Möglichkeiten die Frauen in der Kunstszene der 20er und 30er überhaupt hatten. Wie sich die Aufbruchsstimmung des Expressionismus in ihrem Denken und Schaffen äußerte. Und ob sie anschließend, ihrem Lebensumfeld entrissen, in irgendeiner Form daran anknüpfen konnten.
Das liest sich überall dort streng wissenschaftlich, wo auch der Anspruch darauf besteht. Doch gut zwei Drittel des Buches sind den Lebensläufen der Künstlerinnen gewidmet, und da wird es aufregend. Forsch und frech waren sie gewesen, die Leidensgenossinnen, so spricht es zwischen den Zeilen. Und manch eine besaß noch im Exil die Kraft, das Nazideutschland anzuprangern. Erika Mann zum Beispiel schickte Radioansprachen von London aus in die Heimat.
Wo sich Historisches und Persönliches so nahe kommen dürfen, da tun sich ganz neue Quellen auf: Birgit R. Erdle etwa führt uns in einen Exkurs zu Sprache und Sprachlosigkeit in Texten exilierter und deportierter Schriftstellerinnen; wir lernen die Bedeutung von Schweigen und Träumen im Moment des erzwungenen Verstummens kennen. Und ein paar Kapitel weiter begegnet uns der Koffer als Metapher einer Übergangssituation schlechthin.
Da werden sich viele an Anna Seghers Transit erinnern und sich zu einem neuen Blick darauf angeregt fühlen. In diesem Sinn ist das Buch ein Novum in der Exilforschung. sip
Zwischen Aufbruch und Verfolgung. Verlag Zeichen und Spuren, 1994. 32 Mark.
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