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"Erscheinungsbild mißlich!"

■ Politikverdrossen: Ob es um Milliardensummen oder um Städtepartnerschaften geht - nur jeder dritte Sessel ist bei Abgeordnetenhaussitzungen besetzt

Kopf und Körper von Jugendsenator Thomas Krüger bildeten einen rechten Winkel. Der SPD-Politiker schien am vergangenen Donnerstag auf der Senatsbank im Abgeordnetenhaus eingenickt zu sein. Kein Wunder! Am Mikrophon stand Bundessenator Peter Radunski und versuchte das Parlament für Europa zu begeistern. Möglichst viele Berliner sollten sich an der Europawahl beteiligen, appellierte Radunski und langweilte mit seinen Worten Senat, Abgeordnete und Journalisten.

Als dann der Nachtragshaushalt – Einsparungen in Höhe von 1,3 Milliarden Mark – an die Reihe kam, war von den 241 Berliner Abgeordneten nicht einmal mehr jeder dritte anwesend. Der 72jährige Eröffnungsredner Klaus Franke (CDU), Vorsitzender des Hauptausschusses, verließ den Saal sofort, nachdem er sein mehrseitiges Manuskript monoton abgelesen hatte.

Schlafende Senatoren, abwesende Abgeordnete – sind Politiker politikverdrossen? Für Franke ein abwegiger Gedanke: „Ich? Nach 30 Jahren Politik?“ Nein, nein, nur die Debatte zu Europa sei ermüdend gewesen.

Alle hatten ihre Ausreden. Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD, Helmut Fechner (60 Jahre), eilte ohne schlechtes Gewissen in die Zigarettenpause. Was die Grünen in der Bütt währenddessen kritisierten „kenne ich doch schon aus dem Hauptausschuß“. SPDler Gerd Schulze (49) wiederum begründete seinen Abgang mit dem genauen Gegenteil: Ihn interessiere die Debatte nicht, weil er im Hauptausschuß kein Mitglied sei. Sein Argument war verständlich, hatten in diesem Ausschuß die Finanzexperten der CDU und SPD den Nachtragshaushalt doch längst beschlossen. Hinterbänkler wie Schulze mußten am Donnerstag nur aus formalen Gründen zustimmen.

Manche ärgerten sich über die Leere im Plenarsaal und die dadurch unübersehbare Eintönigkeit Berliner Politik. Der 54jährige CDU-Abgeordnete Rainer Giesel grummelte verstimmt: „Das Gesamterscheinungsbild ist mißlich.“ Das Gesamterscheinungsbild ist häufig mißlich – 14 Tage zuvor, als sich SPD und CDU über die mit Peking vereinbarte Städtepartnerschaft kabbelten, fehlten ebenfalls recht schnell zwei Drittel des Parlaments. Man saß lieber irgendwo im Foyer herum, speiste im Kasino, unterhielt sich mit Jounalisten, oder oder.

Sind die Debatten der zweiwöchentlich stattfindenden Plenarsitzungen schlichtweg langweilig? „Das ist nun mal so“, räumte Volker Liepelt (56), parlamentarischer Geschäftsführer der CDU, ein. Für Bernd Köppl (46) von Bündnis 90/ Grüne sind diese Sitzungen gar „das Schlimmste“ am Parlamentsbetrieb. „240 Bekloppte reden aufeinander ein, keiner hört zu – wie Autisten“, war sein frustrierendes Fazit. SPD- Fraktionschef Ditmar Staffelt (45) verfiel angesichts der vor sich hindümpelnden Donnerstage in Nostalgie. Im Westberliner Abgeordnetenhaus in Schöneberg sei sein Platz noch so nah am Rednerpult gewesen, „da konnte ich richtig Störfeuer geben“.

Der Fraktionschef bedauerte, daß durch den großzügigen Saal im Preußischen Landtag „diese enge Diskussionsatmosphäre“ einfach nicht mehr aufkommen will. Zusätzlich habe sich durch die satte Mehrheit der Großen Koalition eine „gewisse Disziplinlosigkeit“ breitgemacht. Unter Rot-Grün, erinnerte sich Staffelt sehnsüchtig, sei durch die knappe Mehrheit das Parlament immer voll gewesen. Sonst wäre manche Abstimmung zu Gunsten der Opposition ausgefallen. Über eine „parlamentarische Erfrischung“ wollte sich der SPD-Chef bereits Gedanken gemacht haben. Doch weder will die Koalition – der Spannung wegen – Mandate an die Opposition abgeben, noch können die Abgeordnetenbänke näher ans Rednerpult geschoben werden. Wegen mangelnder Phantasie wird es wohl vor den Abgeordnetenhauswahlen im Herbst kommenden Jahres zu keiner Erfrischung kommen. Dann aber soll die Mehrheit für CDU und SPD, so die Ergebnisse derzeitiger Meinungsumfragen, knapper ausfallen. Dirk Wildt

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