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Ein kleines Mädchen quält Katzen

■ Béla Tarrs Meisterfilm „Satanstango“ folgt dem Tempo des wirklichen Sehens: Ein langer Weg ist dann eben lang

Es grenzt an Wahnsinn, einen Film, in dem es um das Ausbleiben von Ereignissen geht, siebeneinhalb Stunden dauern zu lassen. Künstlerdünkel, Publikumszumutung, schwere Hochkulturarbeit à la Ottinger, denkt man zunächst. Doch natürlich ist alles ganz anders: „Satanstango“, der zehnte Film des ungarischen Regisseurs Béla Tarr, ist eines der ganz seltenen Meisterwerke zeitgenössischer Filmkunst. Nichts ist hier überflüssig. Der durchgehend in einem verwaschenen Schwarzweiß gehaltene Film folgt dem Tempo des wirklichen Sehens, in dem ein langer Weg so lang ist, wie er eben lang ist. Das ist alles.

In der ungarischen Tiefebene, wo halb verlassene Siedlungen unendlich weit voneinander entfernt liegen und ein grauer Himmel so tief hängt, daß er die Menschen zu erdrücken droht, regnet es fast ununterbrochen. Die Protagonisten – einfache Leute in zerschlissenen Kleidern, einprägsame Gesichter in traurigen Küchen – leben auf einer stillgelegten landwirtschaftlichen Maschinenstation. In dumpfer Untätigkeit gehen ihre Tage vorbei. Jeder versucht, den anderen zu betrügen. Die meisten trinken – und wie: Es gibt eine Kneipenszene, deren großartige Dissonanz und finstere Verzweiflung einfach unglaublich ist.

Beängstigend wild wird hier getanzt und getrunken; eine Stunde jenseits der Zeit und des Lebens: Ein Betrunkener lallt immer die gleichen Sätze, sinnlos bedrängt jemand die Frau, mit der er tanzt, sie wehrt ihn ab, um ihn dann wieder ranzulassen, sinnlos schlagen sich welche; betrunken liegt jemand auf einer Bank und streckt ab und an sein Bein aus, um die Tanzenden zu ärgern. Am Ende der Nacht tritt einer hinaus und übergibt sich. Ein kleines Mädchen mit abstehenden Ohren quält Katzen, bevor sie sich umbringt.

Ein dicker Doktor sitzt an seinem Fenster und starrt auf das immergleiche Leben dort draußen und schreibt auf, was geschieht. Wenn nichts geschieht, stellt er Vermutungen an. Das Aufschreiben ist seine verzweifelte Form der Welt- und Selbstvergewisserung. Ununterbrochen trinkt er dabei aus einer riesigen Korbflasche und raucht und geht erst hinaus – nach Tagen – wenn der Schnaps alle ist. Über schlammige Wege schwankt er gen Abend. Man spürt die Erde und seinen herzinfarktgefährdeten Leib, wenn er stolpert. Später kippt er um und bleibt liegen. Wie ein Stück Vieh wird er am nächsten Morgen ins Krankenhaus gekarrt.

Eigentlich wollen die Einwohner fliehen, doch die graue Depression hat ihnen jede Entschlußkraft geraubt. So warten sie auf den Retter. Das könnte Irimis sein, ein falscher Prophet, der ein bißchen an Django erinnert und zurückkommt, um die Bewohner aus ihrer Lethargie zu wecken. Mit seinem Gehilfen Petrina eilt er durch den Regen, und ein starker Wind treibt die Dinge am Weg vor ihnen her und bläht die langen Mäntel. Wahrscheinlich ist er ein Polizeispitzel, sicher ein Betrüger. In einer feurigen Rede am Sarg des kleinen Mädchens klagt er die Untätigkeit der Bewohner an und verspricht ihnen Lohn und Brot und woanders ein besseres Leben, wenn sie ihm ihr Erspartes hergeben. Das tun sie dann auch und zerschlagen wütend ihre Häuser und ziehen in noch einsamere Ruinen.

Als der Doktor aus dem Krankenhaus zurückkommt, ist niemand mehr da. Er merkt es nicht. Er nagelt das Fenster zu, das ihn mit dem Außen verband, und schreibt weiter. „Ich müßte mich endlich entscheiden. Hier kann ich nicht bleiben“, sagt er sich. „Nichts rührte sich, wie auch er sich nicht bewegte (...), bis zwischen den stummen Gegenständen ringsum auf einmal ein gereiztes Gespräch begann.“ In den siebeneinhalb Stunden von „Satanstango“ sind die eigenen Gedanken ganz woanders zuweilen: Man vergißt sich, die Zeit und alle Worte, denkt an tote Freunde; meditiert über trostlose Räume und vergilbte Küchengardinen. Natürlich nimmt man sich vor, ein aufmerksameres Leben zu führen – das vergeht dann auch wieder. Béla Tarr verzichtet in seinen großartig trostlosen Bildern auf jegliche Koketterie. Symbole sind selten: Manchmal das Ticken der Uhr, der unaufhörliche Regen, zuweilen scheppern die Stimmen aggressiv.

„Wir schaffen noch Kunst, aber wir reden nicht mehr darüber. So erhaben ist es auch nicht“, sagt László Krasznahorkai, nach dessen gleichnamigen Roman der Film entstanden ist und: „Unsere einzige Aufgabe besteht darin, die Distanz zwischen dem Film und unserer Verzweiflung zu erhalten.“ „Wie leben wir, und was merken wir überhaupt, wenn wir leben?“ fragt sich Béla Tarr, und: „Wann wird es wichtig, wie die Ecke dieses Tischs aussieht und aus welchem Material sie ist?“ Detlef Kuhlbrodt

„Satanstango“, Ungarn 1991/94, s/w, 450 min., Regie: Béla Tarr; Kamera: Mihály Vig; morgen, 16 Uhr im Arsenal (Welserstraße 25), der Regisseur ist anwesend und nach der Vorführung auch diskussionsbereit. Nächster Termin im Arsenal am 21.5., am 14. und 16.5. wird „Satanstango“ im Bálazs 1 gezeigt, Haus Ungarn, Karl-Liebknecht- Straße 9.

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