: Riesenschlamperei im Bundesgesundheitsamt
■ Wichtige Erkenntnisse über Aids-Infektionswege wurden bewußt zurückgehalten / Mitarbeiterin beschuldigt die Behörde, „vieles versäumt“ zu haben
Bonn (AP) – Schwere Vorwürfe gegen das Bundesgesundheitsamt (BGA) hat die Mitarbeiterin der Behörde, Johanna L'age- Stehr, gestern im Bonner Aids- Untersuchungsausschuß erhoben. Nach ihrer Darstellung hat das BGA Mitte der 80er Jahre wichtige Erkenntnisse über bis dahin unbekannte Infektionswege von Aids bewußt zurückgehalten. Obwohl es erste Fälle einer Virus- Übertragung durch andere Blutgerinnungsmittel als Faktor-VIII- Präparate gegeben habe, seien keine sofortigen Gegenmaßnahmen ergriffen worden, erklärte die Leiterin des Fachgebiets „Prävention von Viruskrankheiten“. Hier sei „viel versäumt“ worden.
1986 habe sie von einer Medizinerin vom ersten Fall erfahren, bei dem das HIV-Virus nicht mit einem Faktor-VIII-Präparat auf einen Bluter übertragen wurde, sagte die Ärztin, die damals im BGA das Aids-Register führte. Erstmals sei ein Nicht-Bluter infiziert worden, indem er nach einer Herzoperation mit dem Blutgerinnungsmittel PPSB behandelt worden sei. Die 50jährige Patientin habe keiner damals bekannten Risikogruppe (Drogenabhängige und Homosexuelle) angehört. Der Virus habe daher nur durch das PPSB übertragen werden können. Bis dahin sei im BGA nicht bekannt gewesen, daß PPSB bei zahlreichen operativen Eingriffen wie bei Entbindung durch Kaiserschnitt oder schweren Unfällen eingesetzt wird. Außerdem habe es für die Gerinnungsmittel Inaktivierungsverfahren gegeben, bei denen die Viren abgetötet werden sollten. Diese Verfahren funktionierten offensichtlich nicht richtig. Das sei eine „neue Dimension des Problems“ gewesen, betonte L'age- Stehr. Daher habe sie diese Information im BGA sofort weitergegeben. „Darum kümmern wir uns später“, habe sie jedoch als Antwort erhalten. Auf einer Sitzung im Gesundheitsamt sei ihr dann klargeworden, daß den Pharmafirmen die Anwendung von Inaktivierungsverfahren gar nicht vorgeschrieben war.
Johanna L'age-Stehr war Mitte der 80er Jahre im BGA an maßgeblicher Stelle für die Koordinierung der Aids-Bekämpfung zuständig. Sie gehörte zu den MitarbeiterInnen, die immer vor einer Aids-Lawine gewarnt hatten. Nach internen Konflikten war sie innerhalb des BGA isoliert worden, ihr wurde, wie sie gestern gegenüber dem Ausschuß erklärte, ein Maulkorb verpaßt. Mit ihrer Aussage wurden jetzt erstmals die damaligen Konflikte im Bundesgesundheitsamt ausgeleuchtet. In den Vordergrund rückt nun auch, daß gemessen an den letzten Vorwürfen gegen die Behörde, die eigentlichen Skandale Mitte der achtziger Jahre stattfanden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen