Britische Orkane

■ Rasiermesserscharf: John Rattle und das City of Birmingham Symphony Orchestra /Berauschend: Die Deutsche Kammerphilharmonie und Irvine Arditti

Auch wenn Geldsorgen den Birminghamern zu schaffen machen, ihren wilden Wuschelkopf wollen sie behalten. Als Simon Rattle 1980 als 1. Kapellmeister in Birmingham anfing, stand er vor einem Scherbenhaufen. Doch das ehedem drittklassige Provinzorchester ist nun zu einem europäischen Starorchester herangewachsen.

Der 39jährige Rattle zählt zu den Stars der jüngeren Dirigentengeneration. Bis 1997 will der international heißbegehrte Maestro dem Orchester die Treue halten. Wenn Simon Rattle mit seinem City of Birmingham Symphony Orchestra auf Reisen geht, gibt es nicht nur konzertante Schonkost. Mit seiner gigantesken Konzertreihe „Towards the Millenium“ versucht Rattle die Musik unseres Jahrhunderts, verteilt auf mehrere Spielzeiten, in ihrer Gesamtheit vorzustellen. Der Hamburger Tourneestop gab am Mittwoch eine äußerst pikante Geschmacksprobe von Rattles Groß-Projekt. Kontraste standen auf dem Programm: Barockes, Klassisches und Klassiker der Moderne sorgten für abwechslungsreiche Atmosphären. Zunächst aus dem ausgehenden 17. Jahrhundert, und mitten in einer Welt aus höfischem Gekicher und galanter Tänze tanzte verzückt ein schauspielerisch agierender Rattle und ließ Rameaus Balletmusik „Les Boréandes“ aufleben. Auch Haydns Symphonie Nr. 86 nahm er in grimassenhafter Kantigkeit. In Debussys „La Mer“ hörte man - eine Spur zu farblos und gelegentlich etwas zu geräuschverliebt - eher die britische Nordsee als die sonnengefluteten Adria-Strände.

Eine Woge aus Sex und Mordgeschrei, so muß es dem katholischen Bürgermeister Konrad Adenauer in den Ohren geklungen haben, als 1926 „der Wunderbare Mandarin“ in Köln uraufgeführt wurde. Einigermaßen schockiert ließ er das unmoralische Stück sofort aus dem Verkehr ziehen. Rattle zelebrierte die Schönheit des Schmerzes mit der Energie eines Orkans.

Bis an die Schmerzgrenze reizte das Orchester, das schon in „La Mer“ seinen kantigen, ja mitunter gar spröden Klang bewiesen hatte, seine dynamischen Reserven aus, garniert mit rasiermesserscharfen Akzenten, die Béla Bartóks brutal-expressionistisches Ballett zu einem Politikum werden ließen. Tosender Beifall, der mit einer sanft-schönen Zugabe belohnt wurde: dem Pas des Deux aus Igor Strawinskys „Apollon Musagète“.

Auch die Deutsche Kammerphilharmonie aus Bremen hatte Gäste aus Großbritannien dabei. Irvine Arditti und sein Quartett blickten gestern morgen in eine entvölkerte Musikhalle, feiertags wird in Hamburg lieber geschlafen als gelauscht. Doch die Ardittis kennen die Hamburger Krankheit und spielten trotzdem auf ihrem Niveau. Diesmal ein originelles Gelegenheitswerk von Arnold Schönberg. Das Konzert für Streichquartett und Orchester, eine freie Bearbeitung eines Händelschen Concerto Grosso, klang wie eine witzige Parodie barocker Musik-Floskeln. Aufregendere Klangwelten wurden zu Beginn des Konzertes besucht. Jan Sandströms 1987 komponiertes Streichorchesterwerk „Acintyas“ berauschte durch eine vitale, farbenreiche, zuweilen enorm imaginative Plastizität. Jucka-Pekka Saraste dirigierte präzis und mit Anteilnahme. Nach der Pause gab es Brahms in Höchstform. Eine lupenreine musikalisch starke Serenade Nr. 2. Schade nur, daß das Eliteorchester quasi in Abwesenheit des Hamburger Publikums spielen mußte. Sven Ahnert