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Kiste Leber, Stapel Plattfüße: Aus Bergedorf frisch in die Hörsäle

■ Der Mensch aus dem Baukasten: Ein Besuch beim weltweit größten Hersteller für Kunststoff-Skelette und -Innereien Von Sannah Koch

Darf's ein bißchen weniger sein? Vielleicht auch mal ohne Geschlechtsteil oder mit 'nem kürzeren Glied? Anfrage genügt – Firma Binhold richtet's. Dann werden in Bergedorf einfach die Plastik-Torsen „Modell geschlechtslos“ in Kartons verpackt – „Oman, Arabien“ steht in so einem Fall zum Beispiel mit schwarzem Edding draufgeschrieben. Oder nach Japan die Modelle mit den asiatischen Gesichtszügen. Auch schön: halbe Hirnhälften auf drei Mini-Schädeln – für Erdnüsse, Bonbons, oder dererlei... „Die Amis mögen es“, sagt Otto Gies. Und der muß es wissen. Er ist Geschäftsführer des Bergedorfer Unternehmens, des weltweit größten Herstellers von „anatomischen und biologischen Modellen“.

Erinnerungen an Bio-Stunden und das faszinierende „Plöp“

Von außen unverdächtig: Nur wer neugierig durch die Fenster des Betriebs in Lohbrügge späht, den trifft der starre Blick des Knochenmanns. Dann ein Schritt über die Schwelle und Plastikgeruch allüberall. Erinnerungen an Biologie-Stunden werden wach – an das faszinierende „Plöp“, mit dem sich der Embryo aus dem Uterus, der Augapfel aus seiner wächsernen Höhle löste. Herrlich: der Mensch als Baukasten – alles zum Anfassen, schmerzfrei und blutlos, was sonst in den dunklen Tiefen der Eingeweide so geheimnisvoll kneift und rumort.

Hier in Bergedorf werden sie produziert, die Plastik-Innereien zum Betasten und Studieren, die Lehrmittel für Schulen, Universitäten und Pflegeschulen. Und von hier aus werden sie auch in 100 Staaten aller Kontinente verschickt. „Die höchste Marktdurchdringung haben wir in Bahrain“, erklärt Gies stolz. Und: „Sogar in Gaddafis Kindergärten üben sie mit unseren Zahnpflegemodellen.“

Das Erfolgsgeheimnis des Unternehmens mit seinen Tochterfirmen in Budapest und Dresden (die ehemals an das Hygienemuseum angeliederte Lehrmittelfabrik): Überall präsent sein, sich den Wünschen der Kunden anpassen und vor allem billiger als die Konkurrenz produzieren. Sogar Taiwan hätten sie damit schon unterboten, erzählt Gies. „Tolle Mitarbeiter, mit hoher Arbeitsmotivation und viel Eigenverantwortlichkeit“ würden das möglich machen. Viel Teamarbeit und wenig Hierachie herrsche im Bergedorfer Stammhaus unter den 100 MitarbeiterInnen – „schreiben Sie, daß wir ein unkonventionelles Unternehmen sind“, gibt der Geschäftsführer zu Protokoll.

Unkonventionell ist ein Begriff für die Maßnahmen, zu den die Firma Binhold greift, um die Produktionskosten zu senken. Aufträge vergibt sie an Hamburgs Behinderten-Werkstätten und an die Jugendstrafanstalt Vierlande, wo die Insassen Hände und Füße zusammensetzen. Da werden Lohnkosten schnell zur vernachlässigenden Größe. Zusätzlich werden Malarbeiten auch an Heimarbeiterinnen vergeben.

Überhaupt: Malarbeiten. Jedes einzelne, noch so kleine Plastikteilchen geht durch die Hände der Angestellten. Ob Leber, Augenhöhle, Gehörgang oder Nierenquerschnitt, alles wird akribisch von Hand bemalt. Auch die winzigen Zahlen auf den Skeletten, die den StudentInnen die Orientierung erleichtern sollen, werden lupenklein aufgepinselt. Frauenarbeit, darin unterscheidet sich Binhold nicht von der asiatischen Konkurrenz.

1948 entstanden Skelette noch aus alten Pferdegasmasken

Figelinsche Fingertechnik ist auch bei der Skelettmontage gefragt: Ob Gehör- oder Fußknöchelchen, Oberschenkel oder Bandscheibe, alle Teile müssen nach dem Guß von Plastikresten gesäubert, geschliffen und poliert werden. Schließlich macht Binhold mit seinen Skeletten den Hauptumsatz der jährlich fast 20 Millionen Mark. Das Standardmodell A10 (“Schädel, Arme und Beine abnehmbar, Zahnstellung und -zwischenräume entsprechen dem menschlichen Gebiß, Lieferung mit Staubschutzhülle“) ist das meistverkaufte: Jährlich etwa 10.000 werden zum Stückpreis von 515 Mark in die weite Welt verschickt. In diesem Preis sind allerdings weder Gelenkbänder noch Knochen-Numerierungen noch die flexible Wirbelsäule enthalten. Dafür muß man dann schon rund 500 Märker mehr auf den Tisch legen. Kleiner Tip: In allen beweglichen Wirbelsäulen von Binhold ist der Bandscheibenvorfall mit drin – chronisch sozusagen.

Das Bergedorfer Sortiment besteht zu 100 Prozent aus Kunststoff – nicht nur, weil Gründervater Paul Binhold dereinst 1948 die Skelett-Produktion mit auf Gasbrennern eingeschmolzenen Pferdegasmasken aus Wehrmachtsbeständen aufnahm. Den Handel mit echten menschlichen Skeletten lehne man aus ethischen Gründen ab: „Da hängt zu sehr der Ruch der deutschen Geschichte dran.“

Indien war bis 1976 noch der Hauptlieferant für echte Knochengerüste, doch dann verbot Premierministerin Indira Ghandi den Export. Trotzdem, so Gies, komme es hin und wieder vor, daß ihnen Echt-Lieferungen angeboten würden – zuletzt 100 Exemplare aus Rußland. „Wenn solche Geschäfte durch die Presse gehen, ist der Ruf schnell hin.“ Binhold lehnte, trotz immenser Gewinnspanne (Ankaufpreis 700 Mark, Verkaufspreis bis zu 2500 Dollar) ab, eine amerikanische Firma machte schließlich den Deal.

Etwas Frankenstein,ein wenig Backstube und viel Handwerk

Plastik also. Ein bißchen nach Frankensteins Küche und viel nach bodenständigem Handwerk sieht es aus, wenn aus flüssigem Kunststoff ein menschlicher Torso entstehen soll. Und ein bißchen auch nach Omas Backstube. Wie dort werden auch im Binholdschen Erdgeschoß Förmchen benutzt, mit anderen Motiven und in anderen Größen, versteht sich. Aus Töpfchen und Trögen gießen Arbeiter (hier durchweg männlich) verschiedenste fleischfarbene Flüssigkeiten in schwere Eisenformen, versehen sie mit dem entsprechenden Deckel und schieben das schwere Eisenpa- ket für zehn Minuten in den 240 Grad heißen Ofen. Herausgeklaubt werden anschließend warme, hohle Leiber und jede Art von Innerei. Und wenn sich mal was verzogen hat, und die Leber partout nicht mehr in ihre Bauchhöhle will, „dann wärmt man das Teil einfach auf der Backofenklappe bei 50 Grad wieder auf“, rät – ganz Marketingexpertin – Karen Testorf beim Rundgang. Wie bei Oma, eben.

Und dann ab die Teile, in die zahllosen Regale: Hier eine Kiste Leber, dort ein Stapel Gehörgänge, auch Plattfüße selbstredend, alles Wirbel für Wirbel ordentlich in Bananenkartons vom Fischmarkt verstaut. Und nebenan, da stehen sie dann, bereit für Dublin, Toronto, Singapore, Teheran und Liege. Da darf–s auch mal ein bißchen mehr sein.

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