: "Musterung als Trumpfkarte"
■ Zwei von fünf "nacherfaßten" Berlinern ignorieren die Vorladung zum Kreiswehrersatzamt / Bislang wurden 161 Wehrpflichtige polizeilich vorgeführt
Seinen Geburtstag feierte Martin H.* in diesem Jahr besonders ausgelassen: Wer mit 25 noch nicht gemustert ist, wird in der Regel nicht mehr einberufen. Als die Wehrerfassung mit der Vereinigung auf Berlin ausgedehnt wurde, hatte für den gebürtigen Westberliner das Zittern begonnen. Seit die erste Einladung zur Musterung ins Haus flatterte, glich sein Leben immer mehr einer Unterwelt-Existenz. Er meldete sich am Telefon nicht mehr mit seinem Namen, öffnete nicht selbst die Tür, mied seinen Arbeitsplatz. Als wenige Wochen vor dem Geburtstag morgens um sechs „drei Lederjackentypen“ einem „schnieken schwarzen Daimler“ entstiegen und an die Wohnungstür pochten, tauchte er für den Rest der Zeit bei Bekannten im Ausland unter.
Wie Martin H. geht es 39.405 nachträglich erfaßten Berlinern der Jahrgänge 1969 bis 1971. Dabei hatte 1990 unter Berliner Politikern weitgehend Konsens geherrscht, daß nur die Jahrgänge gemustert werden sollten, die nach dem 3. Oktober volljährig würden. Eberhard Diepgen, damals CDU- Oppositionsführer, sagte im September 1990 der taz: „Ich bin der Auffassung, daß diejenigen, die im Alter über 17 sind und nach den Regeln, die jetzt in Kraft treten, wehrpflichtig würden, ausgeklammert werden müssen.“ Jetzt mochte er keine Stellungnahme mehr dazu abgeben.
Die „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ hat bereits zwei Petitionen beim Bundestag eingereicht, der sich aber vor den Wahlen wohl nicht mehr damit befassen wird. Christian Herz von der „Kampagne“ glaubt, daß die Politik „das Problem aussitzen“ will. Deshalb setzt er auf „massenhaften zivilen Ungehorsam“ und rät den Betroffenen, den Musterungstermin mit stichhaltigen Entschuldigungen so lange wie möglich hinauszuzögern: „Die Musterung ist durch nichts ersetzbar, das ist eure Trumpfkarte.“ Wer einer Aufforderung zur Musterung nicht nachkommt, begehe „nur eine ganz klitzekleine Ordnungswidrigkeit“. Wer dagegen bereits gemustert ist, kann jederzeit einberufen werden. Meldet er sich nicht zum Dienst, blasen die Feldjäger zum Halali.
„Diese Strategie ist illegal und wirkungsvoll“, rät auch Rechtsanwalt KaJo Frings, der für die „Kampagne“ eine Musterklage vor dem Verwaltungsgericht formuliert hat, zur Renitenz gegenüber der Musterung. Juristisch ist das Gebiet freilich noch Neuland. Daß sich die gesamte Nacherfassung gerichtlich kippen läßt, glaubt Frings aber nicht: „Die zuständige Kammer will von der verfassungsrechtlichen Problematik gar nichts wissen.“
Die Bundeswehr spielte ihre Schwierigkeiten mit den Berliner Wehrpflichtigen lange herunter. „Ich führe darüber keine Statistik“, so der Leiter des Berliner Kreiswehrersatzamts, Bernhard Steimle. Doch kurz vor Steimles offizieller Amtseinführung in der vergangenen Woche gestand das Verteidigungsministerium erstmals das Ausmaß des Desasters ein: In seiner Antwort auf eine kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Vera Wollenberger (Bündnis 90/Die Grünen) teilte Staatssekretär Bernd Wilz mit, daß derzeit 40 Prozent der Nacherfaßten der Erstladung zur Musterung nicht nachkämen. In 750 Fällen sei eine polizeiliche Vorführung angeordnet, in 161 bereits durchgeführt worden.
Bei der begrenzten Kapazität des Kreiswehrersatzamts führt die Nacherfassung freilich dazu, daß vor allem die älteren Jahrgänge zur Bundeswehr einberufen werden. Zwar betont Steimle, sein Amt habe genügend Verstärkung von auswärts erhalten, um auch die 1974 und 1975 Geborenen mustern zu können. Doch bezeichnet es Horst Kohle, Pressesprecher der Wehrbereichsverwaltung VII in Strausberg, als vorrangiges Ziel, die Jahrgänge 1969 bis 1971 noch vor ihrem 25. Lebensjahr zu erwischen.
Ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums erläutert, warum die Bundeswehr nicht lockerläßt: Bei dem gegenwärtigen „Personalstrukturmodell“ einer 370.000 Mann starken Armee – „davon gehen wir aus“ – brauche man aus jedem Jahrgang 186.000 Wehrpflichtige. Doch stehen, bei einer durchschnittlichen Jahrgangsstärke von 370.000 Neunzehnjährigen in diesem Jahrzehnt, nur 185.000 Jungmannen zur Verfügung. Durchschnittlich 28 Prozent verweigern, den 22 Prozent „Untauglichen“ will die Bundesregierung nun zu Leibe rücken: Vom Wehrdienst sollen nur noch diejenigen verschont werden, die auch nicht voll berufsfähig sind.
Die Entscheidung, die älteren Berliner Jahrgänge nachzumustern, scheint der Bundeswehr aber zum Eigentor zu geraten: Inzwischen, weiß Christian Herz, haben sich auch die Jüngeren vom Vorbild der Nacherfaßten animieren lassen und ignorieren die Rufe des Kreiswehrersatzamts. Ralph Bollmann
* Name geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen