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Ambivalenz ist sein Programm

Beinharter Konservativer oder liberaler Christdemokrat? / Der Kandidat mit den besten Chancen, auch Bundespräsident zu werden, will sich nicht in ein Rechts-links-Schema einordnen lassen  ■ Von Jürgen Gottschlich

Kein Zweifel, der Mann kommt an. Die Sätze sind anschaulich, die Pointen sitzen, und die Zuhörer werden da abgeholt, wo sie stehen. Den erst vor einigen Wochen ernannten Richtern und Richterinnen des neuen Landesverfassungsgerichts in Potsdam öffnet der Präsident aus der Hauptstadt des Rechts, der oberste Richter der Nation, Roman Herzog, das Füllhorn seines Erfahrungsschatzes. Die Neuen, zumal die, die auch aus den neuen Ländern kommen, läßt er teilhaben an einer Retrospektive der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, die es in den anderen westeuropäischen und erst recht osteuropäischen Ländern so ja nicht gibt. Der Mann am Rednerpult macht einen leutseligen, jovialen Eindruck, gemischt mit einem ordentlichen Schuß Paternalismus, der unter der Oberfläche durchschimmert. Der Mann wirkt klein, gedrungen, füllig – barock ist die Chiffre, unter der Roman Herzog katalogisiert wurde.

„Aus der Behäbigkeit der Erscheinung könnte man den Schluß auf Gutmütigkeit ziehen.“ Doch „das wäre verkehrt“: Diese Worte in einem Artikel von Friedrich Karl Fromme, dem innenpolitischen Dinosaurier der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), haben Herzog getroffen. Nicht nur, daß Fromme ihm jede Gutmütigkeit abspricht, Herzog wird von dem Gralshüter des deutschen Konservatismus regelrecht exkommuniziert. Als ein Mann, auf dessen Gesinnung kein Verlaß ist, der seine Karriere vor das rechte Gemeinwohl stellt und „kühl bis ans Herz“ ist. Direkt auf die FAZ angesprochen, gibt Herzog sich so kühl, wie der Schreiber ihn darstellte. „Daß Herr Fromme mich kritisiert, ist sein gutes Recht. Mein gutes Recht ist es, das Zeug zu lesen oder nicht zu lesen.“ Daß er sehr wohl gelesen und sich gebührend geärgert hat, wird noch in einem Schlenker seines Vortrages in Potsdam deutlich: Fassen sie sich kurz in ihren Urteilsbegründungen und öffentlichen Äußerungen, rät er den Novizen in der Provinz, dann kann auch „Herr Fromme in der FAZ Sie nicht fehlinterpretieren“.

Nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ entdeckte ein Teil der Publizistik Herzog prompt als schlitzohrigen umtriebigen liberalen Querdenker. Obgleich von der CSU als Kandidat vorgeschlagen, beschreibt die Weltwoche den Richter als einen Mann, der „in den letzten Jahren Positionen vertrat, die seine konservativen Parteifreunde vor Schreck erzittern ließen“. So habe er sich für einen Volksentscheid über eine neue Verfassung eingesetzt, überhaupt lehne er mehr plebiszitäre Elemente nicht ab – und er habe auch schon mal ein generelles Tempolimit von 130 km/h auf Autobahnen vorgeschlagen. Bei näherem Hinsehen also: „überraschend liberal“.

So erstaunlich, wie die Weltwoche meint, ist der Einsatz von CSU- Chef Theo Waigel für Herzog aber denn doch nicht. Außer seiner bayerischen Herkunft – Herzog wurde im April 1934 in Landshut geboren – gibt es in seiner politischen Laufbahn gute Gründe für Waigel, ihn als Wolf unter Wölfen herauszuschnuppern. In seinem bislang exponiertesten politischen Amt als Innenminister in Baden- Württemberg von März 1980 bis Oktober 1983 profilierte sich Herzog als „beinharter Konservativer“, wie sein derzeitiger Nachfolger in der Großen Koalition in Stuttgart, Frieder Bierzele (SPD), meint. Die Bundesrepublik erlebte in jenen Jahren die großen Friedensdemonstrationen gegen die Nachrüstung, und Roman Herzog stand als Polizeiminister, in dessen Amtsbereich die amerikanischen Pershing-II-Raketen stationiert werden sollten, ganz vorn an der Front. Herzog ließ als erster Innenminister den Einsatz von CS-Reizgas und Gummigeschossen gegen Demonstranten prüfen (als Alternative zum Schußwaffeneinsatz, wie er heute betont) und dachte sich darüber hinaus eine besondere Abschreckungswaffe aus: In der baden-württembergischen Polizei-Vollstreckungskostenverordnung entdeckte der findige Jurist eine bis dato ungenutzte Passage, Demonstranten für die Kosten von Polizeieinsätzen haftbar zu machen. Seitdem müssen im Südwesten der Republik friedliche Demonstranten, die sich händchenhaltend vor eine Kaserne setzen, um sich dann von der Polizei ohne Gegenwehr wegtragen zu lassen, für diesen Polizeieinsatz zahlen. In der entscheidenden Landtagsdebatte zur Rechtfertigung der Demogebühren bestritt Herzog vehement, etwas anderes als die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz im Sinn gehabt zu haben: „Es geht nicht um die Abschreckung rechtmäßiger Demonstranten und – in den Größenordnungen, um die es sich hier handelt – noch nicht einmal um die wirkliche Abschreckung rechtswidriger Demonstranten, die man in der Tat abschrecken dürfte. Es geht auch nicht um das Auffüllen der Kasse. Meine Damen und Herren, wenn es um die Kriegskasse gegangen wäre, hätte man ganz anders zulangen müssen als mit 38 Mark die Stunde. Nein, mir geht es darum, wie der Staat bei dem normalen rechtstreuen Bürger dasteht, der für jede Genehmigung Gebühren bezahlen muß.“

Herzog erwarb sich aber nicht nur bleibende Verdienste um die Demo-Kultur. Als Innenminister lag er mit der engagierten Datenschützerin Ruth Leutze im Dauerclinch. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger im Amt als oberster Richter, Ernst Benda, sah Innenminister Herzog im Datenschutz eher den Täterschutz. Der von ihm protegierte Landespolizeidirektor Stümper war einer der führenden Köpfe bei der Entwicklung präventiver Polizeiarbeit – mit dem Einsatz von Undercoveragenten, Lauschangriffen und anderen Dingen, die Kanther nun, zehn Jahre später, in seiner Agenda für die Verbrechensbekämpfung als neue Ideen propagiert.

Baden-Württemberg war bereits zu Herzogs Amtszeit Vorreiter einer restriktiven Asyl- und Ausländerpolitik, und der Innenminister ließ gnadenlos abschieben. Niemand, schon gar nicht Karl Friedrich Fromme, wäre damals auf die Idee gekommen, ihm das Etikett konservativ streitig zu machen.

Sitzt in Karlsruhe mithin ein Mann, der in den letzten Jahren vom Saulus zum Paulus wurde? Roman Herzog genießt diese Verwirrung um seine Person wie seine Zigarren. Genüßlich im Sessel zurückgelehnt, diktiert er einen Satz, den er sich nicht erst für die taz ausgedacht hat: „Die Tatsache, daß ich nie in meinem Leben ganz einzuordnen gewesen bin, hängt nur zum geringsten Teil mit Nonkonformismus auf meiner Seite zusammen – obwohl ich mir das Recht, mir meine Denkschemata zu machen, immer vorbehalten habe –, sondern es gibt ja in Deutschland so eine Art Kästchendenken. Auf die Frage, sind sie ein Konservativer oder ein Liberaler kann ich beim besten Willen keine Antwort geben. Wenn sie einen liberalen Staat konservieren wollen, löst sich die Frage überhaupt auf.“

Diese Ambivalenz Herzogs bleibt auch nach einem längeren Gespräch erhalten. Das ist für Herzog aber durchaus Programm. Sein Sowohl-Als-auch sieht er geradezu als notwendige Voraussetzung für den Job als Bundespräsident an, der ja „Integrationsfunktionen wahrnehmen muß“. Als Präsident des Bundesverfassungsgerichts hat er aus seiner Sicht bereits eine ähnliche Aufgabe. Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht sind „konsensstiftende Institutionen“. Deshalb habe er möglichst auf einstimmige Entscheidungen hin diskutiert. Das, so sagt er, sei ihm wichtiger, als eine Sache ganz präzise juristisch zu Ende zu bringen und dann nur eine knappe Mehrheitsentscheidung zu bekommen. Das erklärt vielleicht einen Teil der Verfassungsgerichtsurteile, die die Rechte ihm heute übelnimmt. Herzog, so FAZ- Fromme, hat nicht für konservative Positionen gekämpft: „nicht beim Demonstrationsrecht (Brokdorf-Urteil), nicht bei einer ausufernden Rechtsprechung zur Kunstfreiheit, die nahezu jede Verunglimpfung des Staates unter den Schutz des Grundrechts auf freie Kunstausübung stellt, nicht bei der Rechtsprechung, die sich auf die schändlichen Eingriffe der DDR in das Grundrecht auf Eigentum bezieht.“

Herzogs indirekte Antwort auf diese Vorwürfe ist klar. Er sieht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts anders. Er ist nicht nur Politiker, er ist Jurist und Grundgesetzkommentator. Wichtiger als konservative Siege im Einzelfall ist ihm die Institution. Das Bundesverfassungsgericht muß zum gesellschaftlichen Konsens beitragen. Herzog war als Jurist auch immer Politiker und als Politiker immer auch Jurist.

Seine steile Karriere begann in Berlin, wo er 1965 mit 31 Jahren als jüngster Professor an die Freie Universität berufen wurde. Er lehrte Staatsrecht, aber eben nicht nur. „Er war einer der letzten, die der Übernahme durch die radikale Linke an der Uni getrotzt haben“, erinnert sich die graue Eminenz der Berliner CDU, Klaus Landowsky, der ebenso wie Eberhard Diepgen bei Herzog Vorlesungen besuchte. Der junge Staatsrechtler mischte schnell in der Uni-Politik mit. Er gehörte zu den Mitgründern der „NOFU“, der Notgemeinschaft FU, einer Professorentruppe zur Abwehr der vermeintlichen kommunistischen Gefahr, und war ausgerechnet 1967, als alle Zeichen auf Sturm standen, Vorsitzender des Disziplinarausschusses des FU. Aus dieser Zeit ist ein bemerkenswertes Dokument erhalten: eine Vorladung des stud. Phil. Fritz Teufel, geboren am 17. 6. 1943, für den 2. Juni 1967. Darin wird dieser angeschuldigt, „vorsätzlich oder grob fahrlässig seine Pflichten als Student der FU Berlin dadurch verletzt zu haben, daß er sich nicht so verhielt, wie dies von einem akademischen Bürger erwartet werden muß, indem er in einem Selbstbedienungsgeschäft in Berlin-Charlottenburg ein halbes Pfund Butter, eine Dose Lederspray und 2 Paar Strümpfe entwendete“.

Diese Verhandlung fiel für Prof. Dr. Herzog jedoch aus, da Fritz Teufel, Rainer Langhans, Ulrich Enzensberger und andere dem sehr geehrten Vorsitzenden mitteilten, daß sie zu dem „von Ihnen anberaumten Termin nicht erscheinen werden“, weil 1. „Wir grundsätzlich der Meinung sind, daß die Gerichtsbarkeit der akademischen Bürokratie in Form von Disziplinarverfahren abgeschafft werden muß. Und 2.: Der Termin fällt offenbar zufällig in den Zeitraum des Schah-Besuchs. Wir halten unseren Protest gegen den Schah und die Vertreter der BRD, die ihm Gastrecht gewähren, für so wichtig, daß wir nicht zu diesem Zeitpunkt vor dem Disziplinarausschuß erscheinen können.“

Am Nachmittag des 2. Juni 1967 wurde Benno Ohnesorg am Rande der Schah-Demo von dem Polizisten Kurras erschossen.

Knapp zwei Jahre später wechselte der letzte Kämpfer gegen die radikale Linke von der FU an die Hochschule für Verwaltungswissenschaft in Speyer. Ihn haben die „dauernden Gremiensitzungen und Satzungsberatungen genervt“, die die neue Hochschulverfassung mit sich gebracht hat. Im Gegensatz zu anderen CDU-Größen wie Schäuble will er sich jedoch heute nicht mehr an einem Kulturkampf gegen die Errungenschaften von 68 beteiligen. „Soviel“, sagte Herzog, „hat 68 ja gar nicht bewirkt. Es war halt ein Generationswechsel, bei dem manches Verknöcherte geknackt wurde. Das wäre aber auch ohne die Studentenrevolte passiert.“

Daß damals die Rolle der Eltern im Faschismus zum Thema wurde, eine Debatte begann, die mit der Frage der sogenannten Normalisierung heute heftig weitergeht, hat ihn wohl wenig interessiert. Das scheint immer noch so zu sein, denn auf entsprechende Fragen zieht Herzog sich auf die denkbar unverfänglichste Position zurück. „Ich teile die Auffassung Richard von Weizsäckers in seiner Rede vom 8. Mai 1985.“ Wir müßten halt immer wieder darauf achten, aus unserer Geschichte die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

Obwohl Roman Herzog bemüht ist, Fragen erschöpfend zu beantworten, nutzt er doch die Chance, von Zeit zu Zeit bedauernd auf die besonderen Zwänge als amtierender Richter zu verweisen. Über die Rolle der Bundeswehr, die außenpolitischen Aufgaben, das müsse man verstehen, könne er sich nicht äußern. „Das ist ja hier im Hause anhängig.“ Während er im Gespräch mit der taz das Thema multikulturelle Gesellschaft als amtierender Richter ebenfalls nicht behandeln wollte, ließ er in einem jüngst erschienenen Interview mit Focus jede Zurückhaltung fallen. Er sei für eine erleichterte Einbürgerung, aber gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft. Offenbar unbeeindruckt von den Debatten der letzten Jahre, wiederholte er die alte Parole der CDU-Rechten: Wer nicht Deutscher werden wolle, müsse halt irgendwann wieder nach Hause gehen. Gleichzeitig legt er aber Wert darauf, nicht in die nationale Ecke gestellt zu werden. Als Reaktion auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten „jetzt ganz stark die nationale Karte zu spielen, halte ich nicht für aussichtsreich“. Trotzdem könne man natürlich auch nicht ganz darauf verzichten.

Doch zur Stabilisierung des Gemeinwesens sind das eher Randaspekte. Herzog ist davon überzeugt, daß die bundesdeutsche Gesellschaft sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen wird. „Die Kraft, die wir brauchen, kommt aus dem Willen, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden.“

Entsprechend schwach entwickelt ist sein Vorstellungsvermögen von der drohenden Apokalypse. Menschheitsprobleme wie Treibhausklima, Ozonloch, Ressourcenverknappung und damit einhergehende Bedrohungen auch für das westliche Demokratiemodell sieht er nicht: „Epochale Probleme gibt es seit zweihundert Jahren, und von einer Ökodiktatur kann ich mir nichts versprechen.“

Zuletzt bleibt ein dunkler Punkt in der Biographie des Pragmatikers des Konsenses. Herzogs juristische Karriere ist eng verknüpft mit dem bekanntesten Grundgesetzkommentator Theodor Maunz. Herzog hat bei ihm studiert, Maunz war sein Doktorvater, danach war Herzog bei ihm Assistent. Sie haben jahrelang täglich telefoniert. Kurz nach dem Tode von Maunz enthüllte Gerhard Frey, Chef der neofaschistischen DVU und Herausgeber der Nationalzeitung, daß Maunz jahrelang sein ihm freundschaftlich verbundener juristischer Berater gewesen sei. Herzog reagierte umgehend, „er sei wütend“ über seinen ehemaligen Mentor, und „ich habe allen Grund, mich zu distanzieren“. Freys Enthüllung, so sagt er, habe ihn völlig überrascht. „Ich habe gewußt, was er im Dritten Reich geschrieben hat, aber er war im Kern seines Wesens kein Nazi – das hat er aus opportunistischen Gründen gemacht.“ Tatsächlich gehörte Maunz zu den fürchterlichen Juristen des Dritten Reiches, die den Willen des Führers juristisch legitimierten. Für Herzog war das jedoch eine vergangene Epoche. „Ich hab' ihn als überzeugten Demokraten kennengelernt.“ Für die Zusammenarbeit mit Frey „gibt es keine Erklärung“. Und für Herzogs Ahnungslosigkeit?

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