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Labour sucht Führung

■ Am Tag nach dem Tod von Smith läuft schon das KandidatInnenkarussell

London (taz) – Die britische Labour Party sei „eine Partei großer Reife, deren kriegerische Tage lange, lange zurückliegen“, sagte gestern der ehemalige Labour- Chef Neil Kinnock fast beschwörend. Nach dem plötzlichen Tod des Parteiführers John Smith am Donnerstag nachmittag geht bei der Labour Party jetzt die Angst um, daß die alten Flügelkämpfe wieder aufbrechen könnten, die der Partei in den achtziger Jahren eine Wahlniederlage nach der anderen beschert haben. Wenn von Smith auch keine bedeutenden politischen Anstöße kamen, so hat er als Kompromißkandidat doch zumindest für Ruhe in der Partei gesorgt.

In den britischen Medien herrschte gestern Einigkeit, daß mit Smith der künftige britische Premierminister gestorben sei. So sicher war das freilich keineswegs. Bei Umfragen hat die Labour Party zwar inzwischen 22 Prozent Vorsprung vor den Torys, doch Meinungsforscher räumen ein, daß dieses Bild trügerisch ist. In Wirklichkeit stagniert der Labour-Stimmenanteil seit zwei Jahren bei rund 40 Prozent. Die Schwankungen bei Umfragen liegen an dem jeweiligen Grad der Unzufriedenheit mit der Regierung, doch viele WählerInnen ändern in der Wahlkabine noch einmal die Meinung und machen das Kreuzchen dann doch nicht bei Labour, wie auch die Kommunalwahlen in der vergangenen Woche gezeigt haben.

Woran liegt das? Offenbar kauft niemand gerne die Katze im Sack. Und die Labour Party hält dicht, wenn es um Fragen nach ihrem politischen Programm geht. Unter John Smith sind kaum Einzelheiten darüber durchgesickert, welche Entscheidungen eine Labour-Regierung durchsetzen und wie sie diese finanzieren würde. Mutmaßungen über mögliche Steuererhöhungen, so hieß es, können erst nach den Parlamentswahlen beantwortet werden. Labours Taktik bestand vor allem darin, die „Torys sich gegenseitig fertigmachen zu lassen“, wie ein Labour-Abgeordneter es beschrieb. Und: „Es gibt keine Anzeichen dafür, daß sich das unter einem neuen Vorsitzenden ändern wird.“

Zwar betont die Labour-Führung, daß die Smith-Nachfolge bis zu den Europawahlen, die in Großbritannien bereits am 9. Juni stattfinden, gar nicht zur Debatte stehe, doch hinter den Kulissen wird bereits eifrig spekuliert. Die besten Aussichten hat Tony Blair, der 41jährige Parteiexperte für Innenpolitik. Ebenfalls hoch gehandelt wird der zwei Jahre ältere Gordon Brown, der wirtschaftspolitische Sprecher der Labour Party. Da beide dem konservativen Flügel angehören, wird vermutlich nur einer von beiden kandidieren – möglicherweise im Gespann mit einem Vertreter der Linken als Stellvertreter, um eventuelle Grabenkämpfe von vornherein zu unterbinden. Dafür käme der Gewerkschafter John Prescott in Frage. Nur geringe Chancen werden der Smith-Stellvertreterin und Interimschefin Margaret Beckett eingeräumt, die ursprünglich vom trotzkistischen Flügel kam, sich aber in den vergangenen zehn Jahren immer weiter nach rechts orientiert hat.

Labour wird wohl nicht bis zum Parteitag im Herbst warten, um über die Smith-Nachfolge zu entscheiden, sondern Mitte Juli einen Sonderparteitag einberufen. Wer es dann auch immer wird – die Torys werden danach warnend auf die Unerfahrenheit der Labour- Führung hinweisen. John Smith war nämlich der einzige im Schattenkabinett, der Regierungserfahrung hatte. Sein Tod hat Premierminister John Major in doppelter Hinsicht Zeit zum Luftholen verschafft: Zum einen wird die Labour Party für eine Weile mit sich selbst beschäftigt sein, zum anderen ist Major dadurch auch ein Widersacher in der eigenen Partei vom Hals geschafft worden: Industrieminister Michael Heseltine hatte wie Smith vor ein paar Jahren einen schweren Herzinfarkt erlitten. Nach Smiths Tod wird bei den Torys niemand auf einen gesundheitlich angeschlagenen Major- Konkurrenten setzen. Ralf Sotscheck

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