Im Osten nichts Neues

■ Funktionäre scheuen politische Signale / Das deutsche Turnfest, kaum wurde es eröffnet, sorgt für gewaltigen Mißmut in den neuen Bundesländern

Hamburg (taz) – Das 29. Deutsche Turnfest in Hamburg war noch gar nicht eröffnet, da wurde schon heiß diskutiert. Denn der Hauptausschuß des Deutschen Turner-Bundes (DTB) hatte darüber befunden, wer denn nun die Ehre haben dürfe, das Fest im Jahre 1998 veranstalten zu dürfen. Das Ergebnis werteten die neuen Bundesländer als Ohrfeige: Nicht Leipzig, sondern die Olympiastadt von dereinst, München, erhielt den Zuschlag.

Wenn auch das Votum zugunsten der bayerischen Landeshauptstadt mit 57:51 knapp ausfiel. Der Präsident des Deutschen Turner- Bundes, Jürgen Dieckert, lavierte sich um eine Begründung, in dem er wachsweich formulierte: Die Bewerbungen seien durchaus „gleichwertig“ gewesen – wie schön! Das Ergebnis offenbare, so der Präsident, die „gespaltene Seele des Hauptausschusses“. Weiter im Text des Herrn Dieckert: „München brachte Infrastruktur und Erfahrungen mit Großveranstaltungen ein, für Leipzig sprach die spezielle politische Situation.“

Wir wissen nun, was mehr zählt. Die Delegiertenmehrheit setzte kein politisches Signal. „Gesamtdeutsche Gesichtspunkte waren nicht, wie von mir erhofft, ausschlaggebend“, beklagte Leipzigs Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube sichtlich enttäuscht. Denn, gerade „für Leipzig wäre es sehr wichtig gewesen, zu diesem Zeitpunkt das Turnfest zu bekommen“.

Von Schlichtheit überhaupt keine Rede

Wohl wissend, daß man mit „Qualität und Niveau von München nicht konkurrieren“ könne, so moniert der verprellte OB, hätte es dem DTB „gut angestanden, sich für ein schlichtes, einfaches Turnfest zu entscheiden“. Aber, mit der Einfachheit ist es nicht mehr so weit her. Allzu spartanisch lieben es die Turner von heute nicht mehr, und „mögliche unwägbare finanzielle Risiken in Leipzig“ (Dieckert) will der Großverband nicht eingehen. Womit wir wohl beim wahren Grund für die Wahl der Austragungsorte angelangt wären.

Geld regiert auch den Deutschen Turner-Bund. In diesem Falle nur ist es recht kurzfristig gedacht. Mit einem politischen Signal hätte es im Osten etwas Neues geben können. Dort lahmt der Vereinssport gar gewaltig. Ganz Sachsen vermeldet nur 55.000 Vereinsturner (Allein in München sind's 70.000!) Die unterentwickelte breitensportliche Tradition, die fehlenden Hallen und Sportanlagen sowie andere, eher unfreiwillige Prioritäten der Menschen zur dringenden Existenzsicherung wirken sich nachhaltig aus. Eine Tendenzwende ist nicht erkennbar. Im Gegenteil: 1993 kehrten in Brandenburg 37 Prozent der Turner ihren Vereinen den Rücken.

Ob das fast 23 Millionen Mark teure Hamburger Turnfest für München Vorbild sein wird, müssen die acht Tage der „Fröhlichkeit und Orientierung“ (Jürgen Dieckert) erst zeigen. Die Vermarktung („Familientreff – gefördert von Iduna/Nova“) ist aggressiver denn je. Kleinvieh bringt auch Mist, dreißig Sponsoren knapp zwei Millionen Mark in die Kasse. Die Stadt an der Alster richtet zum dritten Mal ein Deutsches Turnfest aus und sieht sich mit stolzgeschwellter Brust als Stätte „sportgeschichtlicher Meilensteine“, so Oberrepräsentant Henning Voscherau, seines Zeichens Bürgermeister.

Als da wären: 1898 durften in der Hansestadt bei der neunten Auflage nach 1860 zum ersten Mal Frauen aktiv dabeisein, wenn auch nur beim Schauturnen. 1953 dann erstmals die Teilnahme von fünftausend Jugendlichen unter achtzehn Jahren. Für 1994 reklamiert Voscherau ganz und gar ungeschichtlich das „erste gesamtdeutsche Turnfest nach dem Zweiten Weltkrieg“ für seine Stadt und unterschlägt geflissentlich, daß ihm Bochum/Dortmund bereits 1990 den Rang abgelaufen hat. Karl-Wilhelm Götte