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Neue Verfassung in Wartestellung

■ Am 9. Juni wird der Entwurf einer veränderten Landesverfassung ins Abgeordnetenhaus eingebracht / Die Enquetekommission tagte seit Februar 1992 über 40mal / Kaum Neuerungen im Umweltbereich

Aller Voraussicht zum letzten Mal wird heute die Enquetekommission zur Verfassungsreform zusammenkommen. Über 40mal haben sich die 27 Abgeordneten und Sachverständigen in den letzten zwei Jahren getroffen, um unter Ausschluß der Öffentlichkeit am Entwurf einer Landesverfassung zu feilen. Der Schlußbericht, der bereits unter Dach und Fach ist, soll am 9. Juni ins Abgeordnetenhaus eingebracht und dann beraten werden. Dort müßten die Vorschläge der Kommission durch eine 2/3 Mehrheit der Abgeordneten verabschiedet und spätestens im Herbst 1995 den Bürgern in einer Volksabstimmung vorgelegt werden. Obwohl nach dem Beitritt Ostberlins 1990 der neu eingefügte Artikel 88 Absatz 2 eine Überarbeitung der Westverfassung bis zum Ende der Legislaturperiode vorsah, kam die Kommission nur schwer in Gang. Nach ihrer konstituierenden Sitzung am 11. Februar 1992 mußte sie sich sogleich an schier unüberwindbaren Hürden abarbeiten. Allen voran CDU und FDP zeigten wenig Neigung, sich an den Grundrechtskatalog heranzuwagen. Erst das Vorgehen von SPD und Bündnis 90/Grüne sorgte für Veränderungen und Ergänzungen, die zum Teil weit über den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes hinausgehen. Nach schwieriger Diskussion einigte man sich unter anderem auf die Erweiterung des Diskriminierungsverbotes. Niemand darf künftig wegen seiner „sexuellen Orientierung“ oder wegen einer Behinderung benachteiligt werden. „Angemessen“ im Vergleich zu Bundesnormen nennt die Vorsitzende der Kommission, Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), auch die Regelung, die beim Gleichstellungsartikel erreicht werden konnte. So verpflichtet sich das Land, die gesellschaftliche Teilhabe von Mann und Frau auf „allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens“ zu fördern. Außerdem ist es zulässig, bestehende Ungleichheiten durch Fördermaßnahmen auszugleichen. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Gleichstellung von Lebensgemeinschaften. Gegenüber der Ehe und der Familie dürfen sie nicht mehr benachteiligt werden.

Ein Volksentscheid, der bisher nur zur vorzeitigen Auflösung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses möglich war, wurde nun auf Gesetzes- und Sachentscheidungen erweitert. Notwendig sind hierfür allerdings ein Viertel aller Berliner Stimmberechtigten. Um ein Volksbegehren einzuleiten, sind innerhalb von vier Monaten die Unterschriften von zehn Prozent aller Wahlberechtigten einzuholen. Hinzugekommen ist zudem eine sogenannte Befassungsinitiative: 40.000 Unterschriften wahlberechtigter Bürger reichen aus, damit ein Thema auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt wird. Schwerpunkt der Verhandlungen in der Kommission blieben jedoch die Normen, die auf das Regierungshandeln abzielen. Neu ist die Regelung, wonach das Abgeordnetenmandat und der Beruf künftig unvereinbar sind. Ebenso sollen Parlamentssitz und Senatorenposten nicht mehr kompatibel sein. Wer Regierungsverantwortung übernimmt, muß also auf seine Diäten verzichten. Erweitert wurden die Kompetenzen der Abgeordneten. Mit der Unterstützung durch ein Fünftel der Mitglieder eines Ausschusses sollen sie nun das Recht auf Akteneinsicht erhalten. Bei den Untersuchungsausschüssen wurde das bisherige Quorum auf ein Fünftel aller Abgeordneten heruntergefahren. Im Zeichen vermehrt veröffentlichter Korruptionsaffären ist die eingeführte Abgeordnetenanklage von nicht zu unterschätzender Wirkung: Ein Parlamentarier kann sein Mandat verlieren, wenn er dadurch finanzielle Vorteile erlangt hat. Aufgeführt wurde erstmals eine Unterrichtungspflicht des Senats bei Landes-, Bundes- und Europagesetzen. Die bisherige Praxis ist ein Quell ständigen Ärgernisses, wie Renate Künast beklagt: „Die Verbände erhalten häufig die Informationen früher als die Parlamentarier.“

Die Stärkung der Exekutive, wie sie von SPD und CDU von Anfang an gewünscht war, wurde in Teilen durchgesetzt. Künftig kann der Regierende Bürgermeister die Senatoren, die bislang vom Parlament auf seinen Vorschlag hin einzeln gewählt wurden, selbst ernennen und abberufen. Lange Zeit höchst umstritten war die Ausgestaltung der Richtlinienkompetenz des Regierenden, die er nun allein vornehmen kann. Im Umweltbereich mußten Bündnis 90/Die Grünen gewaltige Abstriche hinnehmen. Immerhin gelang es, für jeden Bürger ein Einsichtsrecht in Umweltakten festzuschreiben. Künftig sollen zudem auch anerkannte Umweltverbände gegen umweltschädigende Vorhaben klagen dürfen. Severin Weiland

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