Vielseitiges Après-Turnen

■ Bei der „Messe des Breitensports“, dem Deutschen Turnfest, haben auch Spezialisten eine Chance

Hamburg (taz) – Turnen ist nicht Sport. Eine absurde Behauptung, jedoch mit einem realen historischen Hintergrund. Turnen im Jahnschen Sinne beinhaltet seit 1811 umfassend vielseitige Leibesübungen, die Vielfalt aller Bewegungen mit und ohne Gerät. Sport, erst fünfzig Jahre später in Deutschland eingeführt, verkürzte den turnerischen Bewegungsreichtum auf Spezialistendasein, Wettkampf, Sieg, Niederlage und Rekordsucht.

Diese reinliche Scheidung ist längst passé. Seit 1978 ist die „Messe des Breitensports“ um 134 Deutsche Meisterschaften angereichert worden. Die Titelkämpfe im Kunstturnen sind ein Höhepunkt des Festes. Auch die Breitensportler möchten in Hamburg ihr Wettkampferlebnis nicht missen, doch erst einmal muß es Spaß machen.

„Das Wasser war 28 Grad warm, 14 vor- und 14 nachmittags“, amüsiert sich Bianca Voits aus dem ostwestfälischen Wünnenberg köstlich. Die 18jährige mußte bereits morgens um acht Uhr dreißig ins kühle Freiluftnaß, um den ersten Teil ihres Wahlwettkampfs zu absolvieren. „Mit 50 Meter Brust in 52 Sekunden ging's los, danach 50 Meter Rücken und Kraul“, erzählt sie in der U-Bahn. Zusammen mit ihren Vereinskameradinnen ist sie gerade auf dem Weg vom Schwimmbad zum vierten und letzten Teil ihres Wettkampfes in die Messehalle fünf, wo sie am Stufenbarren turnen wird.

1.822 Konkurrentinnen starten in der Klasse Jugend A. Kurios: Bei Bianca Voits streikte der Turnfestcomputer, sie wurde den Frauen 75 Jahre und älter zugeordnet. Noch ist sie ratlos, wie das ergebnismäßig enden wird. Halle fünf ist für die Wünneberger Mädchen auch nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum Volleyballturnier am Nachmittag. Zuerst Einzelwettkampf, dann das Mannschaftserlebnis, eine gängige Erscheinung in Hamburg.

In Halle fünf pulsiert das Herzstück des Turnfestes, der Wahlwettkampf. An allen Ecken und Enden wird dicht gedrängt geturnt. Zehn Stufenbarren stehen in Reihe, davor ein Parcours von acht Schwebebalken, dahinter Barren und unzählige Recks für jede Leistungsstufe. Alle 30.000 Wahlwettkämpfer müssen, wenn sie eine Turnübung gewählt haben, durch diese riesige Halle der runden und kantigen Geräte. Lange Schlangen, häufig eine stundenlange Geduldsprobe überstehen die Turnerinnen und Turner scheinbar ohne Unmut.

Vielseitigkeit wird besonders belohnt. Der Wahlwettkampf, ein Vierkampf, kann aus Disziplinen der Grundsportarten Geräteturnen, Schwimmen und Leichtathletik zusammengestellt werden. Ist das der Fall, gibt es am Ende einen zusätzlichen halben Punkt Bonuszuschlag. Für den Sieg reicht das häufig nicht, denn auch hier dominieren immer mehr die Spezialisten. Eine reine Schwimmerin als Turnfestsiegerin ist keine Seltenheit.

Nach dem Wettkampf wird Turnen zum täglichen Gemeinschaftserlebnis. Vielseitig versteht sich: gemeinsam essen, trinken, singen und feiern, zuschauen, staunen und klatschen. Auch gemeinsam leben im Massenquartier. Fünfzehn Luftmatratzen nebeneinander im Klassenzimmer ertragen Menschen, für die sonst Urlaubskomfort ein absolut unverzichtbares Gut ist, eine Woche lange, ohne zu murren. Karl-Wilhelm Götte