: Ende der Wartezeit
■ Langsames Erwachen - Paul Schraders "Light Sleeper"
In Frankfurt oder auch in Berlin mögen überquellende Mülltonnen ein Ärgernis sein – in New York sind sie ein Symbol der Apokalypse. Mindestens.
Aber merkwürdigerweise ist das in dem New York, in das uns Paul Schraders neuer Film führt, nicht so. Die Müllabfuhr streikt, und im Verlauf der Handlung werden dem Helden, John LeTour (Willem Dafoe), immer mehr von diesen prallen schwarzen Plastiksäcken in seinen nächtlichen Weg geworfen, bis die Bürgersteige davon schier überquellen. So viel Müll in den Straßen von New York und kein zivilisationskritischer Hintersinn dabei? Nein, wirklich nicht. Das Zeug liegt hier bloß so herum, weil es niemand abholt und wegräumt, wie all die Bilder und Erinnerungsfetzen aus dem einstmals bewegten Leben dieses Helden in seinem zerstreuten Bewußtsein – abgespaltene Restbestände. John nimmt die Entsorgung selbst in die Hand. Er schreibt alles in Kladden, die er wegwirft, sobald sie voll sind.
Schrader hat mit der Apokalypse nichts mehr im Sinn. Dabei versteht er bekanntlich etwas von der Mentalität des Apokalyptikers. Fünfzehn Jahre bevor „Light Sleeper“ entstand, hat er den Taxifahrer Travis Bickle geschaffen; Martin Scorcese hat ihn dann 1976 in den Körper von Robert de Niro fahren lassen. Dem Hl. Travis, der die Hure Babylon durch ein blutiges Selbstopfer bekämpfte, ließ Schrader 1980 Julian Kay, den „American Gigolo“, folgen. Dieser Mann, wieder ein Außenseiter, führte doch eine ganz andere Lebensform vor. Der Schradersche Held hatte sozusagen die Seiten gewechselt, vom homme revolté, der gegen die Welt der Käuflichkeit – verkörpert von Jodie Foster als Kind-Hure – aufbegehrt, zu ei
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nem geschmeidigen, eleganten Herumtreiber, der sich prostituiert. Eine damals sehr zeitgemäße Überlebensstrategie, von Richard Gere kühl in Armani-Klamotten vorgeführt: Gib ihnen, was sie wollen; mach ihnen etwas vor; paß dich zum Schein an; verführe sie!
John LeTour taugt weder zum explosiven Apokalyptiker noch zum narzißtischen Anpasser. Routiniert und ein wenig gelangweilt geht er seinem Job nach. Er ist ein Dealer für Kunden mit hohen Qualitäts- und Sicherheitsansprüchen. Andere Jobs mögen einen mit der Welt verbinden. Zu diesem Job aber gehört es, daß man in der Schwebe lebt. Die Kunst besteht darin, für die eine Seite – die Kunden – stets bereit und greifbar zu sein und sich zugleich für die andere Seite – die Polizei – ungreifbar zu machen. So lebt John LeTour in einer paradoxen Gemengelage aus Verbindlichkeit, Vertrauen und Abhängigkeit einerseits und Mißtrauen, Anonymität und latenter Gewalt andererseits. Seit er selber nicht mehr süchtig ist, scheint er sich im Zustand des Wartens zu befinden. Er wartet auf nichts Bestimmtes; er weiß wohl nicht einmal, daß er es tut.
Schrader macht seinem Helden verschiedene Angebote. Zwei Frauen sind es, die Unruhe in Johns stagnierende Welt bringen. Seine Chefin Ann eröffnet ihm, sie wolle vom Dealen auf Naturkosmetik umsatteln. Er muß sich also Gedanken machen, womit er selber zukünftig sein Geld verdienen will, vor allem aber, wie er ohne Ann, die zugleich Freundin und Vertraute ist, zurechtkommen soll. Er bleibt jedoch seltsam träge; da muß noch mehr zusammenkommen, bis dieser John sich regt. Er hat Schlafprobleme, daher der Filmtitel „Light Sleeper“. Er schläft nie richtig ein, deshalb ist er auch nie richtig wach und bewegt sich unter all den hysterisch wachen Edeljunkies wie ein Schlafwandler. Schrader muß einiges aufbieten, um sein Geschöpf aufzuwecken. So führt er ihn mit Marianne (Dana Delaney), einer alten Liebe aus der Zeit von Wein und Drogen, zusammen. Damals, sagt Marianne zu John, warst du „eine Enzyklopädie von Selbstmordphantasien“; später, nachdem sie noch einmal mit John geschlafen hat, wird sie es sein, die sich umbringt. Jahrelang war sie clean, nun stürzt sie sich vollgedröhnt aus einem Hochhausfenster. Warum? Nun, sie fühlt sich schuldig, weil sie nicht dabei war, als ihre Mutter starb. (Da lag sie mit John im Bett.) Ihre Schwester weiß zu berichten, Marianne habe „immer alles kaputt gemacht“. Na ja. Man könnte auch meinen, der strenge Herr Schrader habe sie geopfert, um seinen Helden zu bestrafen. Und da sind ihm auch unsere keimenden Gefühle für die wunderbare Dana Delaney schnuppe.
Und während wir uns schon ärgern und denken, daß dieser Schrader von Männern eine ganze Menge, von Frauen dafür nicht die Bohne versteht, ist er schon dabei, uns zu widerlegen. John geht nun daran, die Welt, die sein Schöpfer so schrecklich verwirrt hat, ins Lot zu bringen. Er wird sich eine Waffe besorgen und auf ein paar böse Jungs ein paar Schüsse loslassen, von denen er dann endlich aufwacht. Da sitzt er zwar im Gefängnis, aber die Wartezeit ist vorbei. John kann sich endlich darüber klarwerden, daß er Ann wollte. Am Ende, beim hingebungsvollen Handkuß im Besucherraum des Gefängnisses, kann man hoffen, daß daraus etwas wird.
Ob Willem Dafoe als John LeTour den „Helden der neunziger Jahre“ verkörpert, wie überall zu lesen war? Man sollte vorsichtig sein, wie Schrader in einer Szene zu verstehen gibt: Da sitzt Willem Dafoe mit seinem gothic face ratlos in der Sprechstunde von Teresa, die psychische Probleme physiognomisch diagnostiziert. „Lesen Sie mein Gesicht“, bittet er sie. Alles, was sie darauf sagt, ist falsch. Jörg Lau
Paul Schrader: „Light Sleeper“. Mit Willem Dafoe, Susan Sarandon, Dana Delaney, Mary Beth Hurt. USA 1992.
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