piwik no script img

Das Emil-Tischbein-Syndrom

■ Wer mit der Bahn von und nach Berlin reist, irrt orientierungslos durch Bahnhofshallen und Gänge / Die Bahnhöfe sind halbfertige Provisorien / Spuren der Teilung noch sichtbar

Die „Zukunft Bahn“, Synonym für Mobilität und Fortschritt, rollt nur langsam in Berlin ein. Der ICE, die „Concorde auf Schienen“, wie Bahn-Chef Heinz Dürr einmal assoziierte, schafft es gerade bis zum Bahnhof Zoologischer Garten. Neue Fahrpläne, schnellere Verbindungen und Takte knüpfen die Eisenbahner erst allmählich zu einem dichteren Netz. Speziell den Bahnhöfen mangelt es noch an Funktionalität und Übersichtlichkeit, an Infrastruktureinrichtungen und großstädtischem Flair. Wer in diesem Sommer mit der Bahn von und nach Berlin reist, den ereilt das Emil-Tischbein-Syndrom. Unerfahrene Abfahrer und stadtfremde Ankömmlinge werden wie der kleine Held aus Erich Kästners Roman durch die Bahnhofshallen irren – auf der Suche nach Orientierung: Einen Stadtplan sucht man oft vergebens, die Wegweiser und Piktogramme reißen ab, für Fahrkarten steht man sich die Beine in den Bauch, Gepäck muß geschleppt werden, und wer Kleingeld für die Schließfächer braucht, steigt besser gleich wieder in den nächsten Zug.

Natürlich ist die Mängelliste der Berliner Bahnhöfe Resultat ihrer Geschichte. Speziell im Hauptbahnhof, im Bahnhof Lichtenberg oder Bahnhof Friedrichstraße sowie am „Fernbahnhof“ Spandau sind die Spuren der Teilung spürbar. Die Berliner Bahnhöfe gleichen Endstationen, Prellböcken ohne urbanen Halt in der Stadt. Zugleich wird ihre Zerstörung weiter betrieben, liegen doch die Interessen der Bahn und der Stadtentwicklung auf anderen Terrains. „Wenn der Transrapid kommt“, sagt ein Angestellter im Bahnhof Spandau, „werden wir doch überflüssig.“ Einstweilen erinnern die Berliner Fernbahnhöfe Spandau, Friedrichstraße, Hauptbahnhof und Lichtenberg an halbfertige Provisorien. „Im Laufe des letzten Jahres“, erklärt Wilfried Modeß- Hahn, Sprecher beim Berliner Regionalbüro der Bahn AG, „haben sich die Bedingungen für Reisende verbessert. Es fand ein Qualitätssprung statt.“ Reisezentren und Geschäfte wurden gebaut und erweitert, die Kundenbetreuung durch Info-Counter gestärkt. „Für den Ausbau des Reisezentrums im Hauptbahnhof investierte die Bahn 2,5 Millionen Mark, in Lichtenberg knapp 3 Millionen Mark.“

Bei näherer Betrachtung entpuppt sich der „Qualitätssprung“ als Hüpfer. Große Teile des Hauptbahnhofs verharren seit 1989 im Zustand des Rohbaus. Der westliche Trakt steht leer, Tiefgaragenplätze, Parkräume, Gastronomie- und Büroflächen fehlen. Das dreigeschossige Empfangsgebäude, das anstelle des 1985 gesprengten Kopfbaus enstand, atmet den kühlen Charme der Mitropa-Atmosphäre, den die elf Schalter des Reisezentrums und die eingestellten Blumen- und Brezelcontainer nicht vergessen machen.

Nicht anders steht es um den Bahnhof Lichtenberg. Auch hier wird noch gebaut. In die Stirnseite der großen Halle wurde ein halbrunder Glaspavillon als Reisezentrum eingestellt. Die Rückwand hingegen ziert ein Bretterzaun, in den Läden eingebaut werden sollen. Ebenso wie am Hauptbahnhof führen infolge der Baumaßnahmen Wegweiser, Piktogramme und Infomationstafeln in die Irre. Daß sich Reisende in Berlin befinden, bleibt in Lichtenberg ein Geheimnis. Lediglich ein Stadtplan des Bezirks kann mit einiger Mühe ausgemacht werden. Auch den traditionellen Bahnhöfen nimmt man den „Qualitätssprung“ schwer ab. Im unterirdischen Labyrinth des Bahnhofs Friedrichstraße sind Ortsunkundige ebenso wie alteingesessene Berliner verloren. Die Wege, die Reisende von den U-Bahnen zu den Fernbahnen zurücklegen müssen, gleichen selbst nach dem Abtransport der Grenzübergangsstellen vielfach hindernisreichen Langstreckenläufen. Trotz der guten innerstädtischen Lage scheinen die Fernbahntage über der Friedrichstraße gezählt, obwohl es noch kein endgültiges Konzept für den Lehrter Zentralbahnhof gibt. Doch schon jetzt weisen Indizien auf die Schließung hin. Das Bestreben der Bahn, „Reisende nicht länger als fünf Minuten an Fahrkartenschaltern anstehen zu lassen“, wie Modeß- Hahn betont, gilt hier nicht: Besuchern steht weder ein Reisezentrum noch ein Warteraum zur Verfügung. Das Auskunftspersonal scheint ständig verreist. Die Öffnungszeiten für spezielle Fahrkarten sind unpraktisch: montags bis freitags 8 bis 16 Uhr. Auf dem Bahnsteig sind Ankunftszeiten mit Bleistift auf Papierchen gekritzelt. „Es halten nur noch wenige Fernzüge hier“, sagt Bahnsteigwärter Herting. „Und ab Herbst geht hier erst einmal gar nichts mehr.“ Für Bahnreisende wird das Eisenbahnkreuz Berlin dann für mehr als zwei Jahre zum gordischen Knoten. Von September 1994 bis Mitte 1997 schließt die Bahn die Stadtbahnstrecke zwischen Zoo und Hauptbahnhof, um die Elektrifizierung der Trasse und die Sanierung der Stadtbahnbögen vorzunehmen. Eine Stadtdurchfahrt wird es dann nicht mehr geben. Zoologischer Garten und Hauptbahnhof avancieren zu Endstationen. Wie der kleine Bahnhof Zoo das Zug- und Fahrgastaufkommen angesichts der räumlichen Defizite bewältigen soll, macht der Bahn AG noch Kopfzerbrechen. Wer durch Berlin muß, macht am besten einen Bogen um die Stadt. Rolf Lautenschläger

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen