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Der Weg zur hübschen Jungfrau

Jedes Jahr zu Pfingsten wandern eine Viertelmillion Pilger zu einer kindergesichtigen Madonna in Andalusien / Blumen im Haar, Sherry, Proviant, Geselligkeit und mehr oder weniger fromme Absichten  ■ Von Antje Bauer

Auf dem Kamm der Düne kramt der Kleinunternehmer Luis ein tragbares Telefon aus dem Rucksack und klingelt mal kurz im Betrieb an: „Alles in Ordnung?“ fragt Luis und drückt seinen Strohhut tiefer ins Gesicht. „Wir sind hier im Cerro de los Ansares, es ist heiß, und die Nacht war anstrengend.“ In dieser nackten, gelben Düne wurden die Wüstenszenen für „Lawrence von Arabien“ gedreht. Während Luis sein Telefon wieder einpackt, stapfen drei Frauen in rotgepunkteten Rüschenkleidern und Strohhut mit Wanderstäben den Hügel hinauf. Auf der gegenüberliegenden Anhöhe hat sich ein japanisches Fernsehteam aufgebaut, aber nicht die Frauen in ihrer mittelalterlichen Aufmachung sind das Ziel ihrer Aufmerksamkeit, sondern der seltsame Zug, der sich langsam seinen Weg durch die Düne bahnt. Eine lange Karawane von Treckern, die hochbeladene Anhänger ziehen, brummt durch den Sand, begleitet von Reitern auf zierlichen Pferden, in der Mitte des Zugs glänzt es silbern: Vier schwarze Stiere ziehen ein Madonnenvlies in einem silberverkleideten Karren mit Baldachin durch diese kleine Wüste. Die Stiere sind erschöpft. Die Zungen hängen ihnen aus dem Maul, die Flanken zittern. Schon den zweiten Tag ziehen sie den schweren Karren durch die Hitze. „Ho!“ schreit ein Treiber, die vier Stiere bleiben stehen, der Zug kommt zum Halt. Von den Anhängern klettern Dutzende Frauen in Rüschenkleidern, stellen sich im Kreis auf und beginnen rhythmisch in die Hände zu klatschen. „Ich gehe durch den Sand und ermüde meinen Körper, um zu dir zu kommen“, singen sie, ein Mann mit andalusischem Reiterhut begleitet auf der Gitarre, Kastagnetten klappern. Ein Paar dreht sich im Kreis in den herausfordernden Bewegungen der Sevillana, der volkstümlichen Form des Flamenco, Sherryflaschen kreisen. Unbeteiligt und milde schaut das goldene Vlies der Madonna vom Morgentau aus ihrem silbernen Baldachin.

Es ist Pfingsten, und wie jedes Jahr haben sich Tausende Andalusier aufgemacht, um in einem kleinen Dorf in der Provinz Huelva der kindergesichtigen „Virgen del Rocio“, der Jungfrau vom Morgentau, die Ehre zu erweisen. Der Marsch wird von unterschiedlichen Orten aus begonnen und trifft sich im Coto de Doñana, einem riesigen Naturschutzgebiet, bis der endlose Zug schließlich am Abend des dritten Tages im nach der Jungfrau benannten Dorf Rocio endet. Im 15. Jahrhundert soll die bäuerliche Jungfrau einem Schäfer erschienen sein. Die Legenden widersprechen sich. Während der Reconquista, der Eroberung des maurischen Spanien durch die katholischen Könige, wurde zu ihren Ehren eine Eremitage errichtet, als spiritueller Stützpfeiler gegen die Heiden sozusagen. 1648 gründete sich die Bruderschaft von Almonte, eine Vereinigung, die sich dem Kult der Jungfrau vom Rocio widmete, mit der Zeit kamen weitere Bruderschaften hinzu. Inzwischen sind es mehr als achtzig, die in ihrem Heimatort in einer eigenen Kapelle ein Vlies mit dem Abbild der Madonna vom Rocio beherbergen und zweimal im Jahr damit zur Jungfrau pilgern, damit diese das Vlies segnet. Die meisten dieser Bruderschaften – die auch zahlreichen Schwestern Aufnahme gewähren – haben sich in Andalusien gegründet, jedoch auch aus Madrid, Toledo, selbst aus dem afrikanischen Ceuta und von den Kanaren reisen die Pilger zu Pfingsten an, um an dieser Wallfahrt teilzunehmen.

Die Zugstiere haben wieder Atem geschöpft. Der Karren auf den hohen hölzernen Rädern beginnt zu ruckeln, die silbernen Glöckchen des Baldachins klingeln leise. Sand wirbelt auf und hüllt Pilger wie Marienvlies in eine Wolke. Die Sonne sticht, im blauen Himmel kreisen Adler. Unter Prominenz aus Film und Fernsehen und die andalusischen señoritos, die Großgrundbesitzer, die ihre Rassepferde tänzeln lassen, mischen sich die jugendlichen Bauern, die ihre – freilich zierlichen – Arbeitspferde für diese Gelegenheit gezäumt haben. Der Vortag hat durch Pinienwälder geführt, in denen Mücken summten, an eingetrockneten Sümpfen vorbei, an denen sich gelegentlich ein Hirsch blicken ließ. Häufig waren die Dutzende von Traktoren und Jeeps, die den silbernen Karren begleiten, im Treibsand steckengeblieben, nervöse Pferde hatten ihre Reiter abgeworfen, aber nichts kann die Pilger erschüttern. In den mit Girlanden und Blumen geschmückten Anhängern sitzen Großfamilien und Freunde, es wird Gitarre gespielt und Sevillanas getanzt, die Hände klatschen den Takt. Tausende Liter Sherry, das andalusische Nationalgetränk, gluckern in diesen Tagen die trockenen Pilgerkehlen hinunter.

Als die Sonne schon untergeht, trifft die Bruderschaft am Nachtlagerplatz ein. Von den Anhängern werden sofort riesige Zelte abgeladen, Lagerfeuer werden entfacht, die Gruppen, die zusammen reisen, essen gemeinsam. Der erste holt schon seine Gitarre heraus, die Damen haben ihre leichten Wanderrüschenkleider mit prunkvolleren vertauscht, die Kämme auf dem hochgesteckten Haar mit neuen Blumen aus der Umgebung garniert und sind mit dem Kosmetikkoffer im Gebüsch verschwunden, um die Gesichtsfarben zu korrigieren. Kastagnetten werden hervorgeholt und Lieder auf „den Weg“ gesungen, der Weg, der zum Rocio führt und den Lebensweg symbolisieren soll. Die Pilger tanzen unter den Pinien des Coto de Doñana, Myriaden Mücken beteiligen sich an dem Fest. Die letzten sherryglücklichen Sängerstimmen verstummen, als sich schon das erste Morgenlicht durch die Pinien schiebt und ein halbes Dutzend friedlich lagernder Stiere erkennbar werden, neben denen kleine Wildschweine grunzend in Abfalltüten wühlen. Die letzten Lagerfeuer verlöschen qualmend, während an Bäumen angeleinte Pferde unruhig wiehern – Wildwestromantik mitten in Europa.

„Ich komme jedes Jahr hierher“, versichert Irene, eine Hausfrau von den Kanarischen Inseln. „Ich treffe die Vorbereitungen mit ein paar Freunden aus Sevilla, wir mieten ein Haus im Rocio, und auf geht's.“ Eine Woche vor Beginn der Pilgerfahrt haben die Frauen aus Irenes Gruppe zu kochen begonnen. Als der Zug zur Mittagspause hält, werden von dem hochbeladenen Anhänger Klappstühle und Tische herabgewuchtet und Dutzende Gefriertaschen ausgepackt, aus denen Tortillas, die traditionellen spanischen Eierkuchen mit Kartoffeln, gebratene Sardinen, Schinken, Oliven, gebratene Schweinefilets auftauchen, um im Schatten einer Pinie mit reichlich Sherry hinuntergespült zu werden. Irenes Gruppe gehört zu den gutbetuchten Pilgern: Der mitsamt Chauffeur gemietete Jeep für die dreitägige Reise und die Verpflegung kosten pro Nase 500 Mark. Für ein Etagenbett in dem gemeinsam für weitere drei Tage gemieteten Haus im Rocio mußte jeder Pilger zusätzlich 1.000 Mark blechen. Wer's billiger haben will, fährt sein Auto selber und schlägt im Dorf ein Zelt auf. Völlig unerläßlich jedoch ist für alle das Mitführen von Unmengen an Nahrung und Sherry: Bei jedem Müdigkeitshalt der schwarzen Stiere vor dem Madonnenvlies werden die Sherryflaschen geöffnet und auch vorbeiwandernde unbekannte Pilger großzügig eingeladen.

Die Pilgerfahrt zum Rocio ist von Puritanern oft kritisiert worden – sie sei nur ein religiöser Vorwand für fleischliche Gelüste. Die Beteiligung an den religiösen Akten ist in der Tat eher mager. Zur Frühmesse, die um 7 Uhr vor dem silbernen Karren abgehalten wird, raffen sich nur wenige Dutzend Pilger auf, während der Rest versucht, sich mit Kaffee aus Plastikbechern von den Anstrengungen der Nacht zu erholen. Daß das „Angelus“ mittags etwas besser besucht wird, mag daran liegen, daß dabei schön gesungen wird – die Abendmesse konkurriert jedenfalls wieder benachteiligt mit den gesellschaftlichen Verpflichtungen der Pilgergruppen. „Ich komme hierher, weil man während dieses Weges so wunderbar abschalten kann – das ist wie eine Entspannungskur“, erklärt der linke Richter Juan Romeo aus Sevilla. Die Jungfrau ist ihm völlig egal. Doch es gibt auch andere. Alfonso zum Beispiel. Als sein kleiner Sohn todkrank war und es keine Hoffnung mehr zu geben schien, gelobte Alfonso, zehn Jahre lang barfuß hinter dem silbernen Karren herzulaufen, falls sein Kind gesund würde. Das Wunder geschah, und dieses Jahr läuft Alfonso zum zehnten Mal barfuß durch den glühenden Sand, die Hand fest an ein Säulchen des segenbringenden silbernen Karrens gekrallt, inmitten von Staub und Hitze. Ein halbes Dutzend Leidensgenossen stapfen wie Alfonso hinter dem großen Holzrad her, das sich schwerfällig durch den Sand dreht: ältere Frauen, Hippies mit einer Wolldecke als Schlafstatt auf dem Rücken, zwei Lesben. Die Wallfahrt des Rocio ist für alle da.

Am dritten Tag werden die verschwitzten weißen Hemden mit frischer Wäsche vertauscht, die Männer rasieren sich, die Frauen stecken frischen Rosmarin und Klatschmohn an die Kämme im Haar. Spätabends kommt der Zug im Rocio an. Durch die Bäume des Coto ist die weiße Eremitage zu sehen, freudige Erwartung unter den Pilgern und zugleich Enttäuschung, daß der camino, der Weg, wieder mal vorbei ist. Nach drei Tagen Pferdewiehern und dem leisen Klingeln der Glocken des Marienkarrens bricht nun der Autolärm in die Stille ein. Im Dorf ziehen aus unzähligen Buden Schwaden von Fettgebackenem, Zigeunerkinder preisen geschmuggelte Zigaretten an – die Zivilisation hat die Pilger wieder. Nur wenige hundert Einwohner hat das Dorf Rocio während des Jahres. Während der dreitägigen Wallfahrt werden es eine Viertelmillion. Das Fest geht hier weiter: Streng nach mittelalterlichen Ritualen begrüßen am Tag nach der Ankunft die Bruderschaften mit ihrem Schrein die Jungfrau, die Bruderschaft vom Rocio heißt ihrerseits die Pilger willkommen. In den engen Gassen drängen sich Reiter, Fahrzeuge, Pferdekarrossen, Frauen in Rüschenkleidern und Männer in schwarzen Hosen. In den niedrigen Häusern und den Zelten vor dem Dorf wird weiter getanzt, gesungen und getrunken – schlafen kann man den Rest des Jahres noch. In der Nacht zum Pfingstmontag schließlich der Höhepunkt: Um 2 Uhr morgens heben die Burschen von Almonte, dem Nachbardorf, das sich als Herr der Jungfrau versteht, den riesigen Schrein mit der Madonna auf ihre Schultern und tragen sie aus der Eremitage. Bis zum Morgengrauen wird sie durch die Menge getragen, Freudentränen der Pilger, denen es gelang, den Schrein oder womöglich ihre brokatene Schleppe zu berühren, „guapa, guapa“, Hübsche, ruft eine aufgekratzte, übernächtigte Pilgerschaft der Jungfrau zu, und eingefleischte Atheisten fühlen plötzlich Gänsehaut. Ab Sonnenaufgang wird die Madonna vom Haus einer Bruderschaft zum nächsten getragen, um die Marienvliese zu segnen – wehe der Bruderschaft, die zu spät im Dorf ankam, sie wird bei diesem Akt mit Nichtachtung gestraft – die Almonteños sind darin unerbittlich.

Montagmittag treten die erschöpften Pilger den Rückweg an. Sie haben einmal mehr ihre Madonna gesehen, manche sind sich nähergekommen, andere haben erneute Gelübde abgelegt. „Bis nächstes Jahr“, lautet der Abschiedsgruß, denn wer einmal zur Jungfrau kommt, kommt immer wieder.

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