Indien auf dem Weg zur Raketenmacht

Nachdem Indien die Fähigkeit zum Bau von Atomwaffen entwickelt hat, kann es jetzt auch die Raketen zu ihrem Transport produzieren / Wettrüsten mit dem pakistanischen Nachbarn  ■ Aus Delhi Bernard Imhasly

Am 11. Februar 1991, als in der Golfregion irakische Scud-Raketen niedergingen, fand im ostindischen Orissa ebenfalls eine Rakete ihr Ziel – ohne dabei jedoch Schaden anzurichten: die Mittelstreckenrakete „Prithvi“ auf ihrem letzten Testflug vor Aufnahme der Serienproduktion. Heute steht Prithvi unmittelbar vor ihrer Einführung in Armee und Luftwaffe.

Eine noch ambitiösere Lenkwaffe, die „Agni“, hat am 19. Februar dieses Jahres präzise den vorgegebenen Ort erreicht. Während Prithvi eine Boden-Boden- Rakete mit einem Wirkungsradius von 250 Kilometern ist, ist die neueste Lenkwaffe eine ballistische Rakete mit einer Reichweite von 2.000 Kilometern.

Prithvi und Agni sind die zwei letzten Produkte des indischen Raketenprogramms, das zehn Jahre nach seinem Beginn die Fertigungsreife für eine Gruppe von fünf Lenkwaffentypen erreicht hat: neben Prithvi und Agni die beiden Boden-Luft-Raketen „Akash“ (25 km) und Trishul (9 km) sowie die Anti-Tank-Rakete „Nag“.

Indien hat damit den Status eines Raketenproduzenten erreicht. Doch es gehört nicht dem Klub jener Länder an – zu dem vier europäische Staaten, Kanada und die USA zählen –, die sich 1987 zum „Missile Technology Control Regime“ (MTCR) zusammengeschlossen haben, um die Weiterverbreitung dieser neuen Kriegstechnologie zu verhindern.

Bereits 1983 hatte die indische Regierung vorausgesehen, daß der Westen eine solche „Technologieverweigerung“ beabsichtigte. Damals erteilte sie dem Leiter des „Defence Research and Development Laboratory“ (DRDL) in Hyderabad, Abdul Kalam, den Auftrag für ein eigenes indisches Raketenprogramm. Der verordnete zunächst ein rasches internationales Shopping, legte danach aber das Hauptgewicht auf die einheimische Entwicklung.

Nach dem erfolgreichen dritten Testflug von Agni – der Name des indischen Feuergotts – im Februar hat Indien laut Kalam bewiesen, daß es nun in den drei kritischen Bereichen – Wiedereintritt in die Atmosphäre, Leit- und Antriebssysteme – autark ist: „Ich kann heute sagen, daß Indien totale technische Fertigungsfähigkeiten für Lenkwaffen erlangt hat. Falls es die Regierung so will, können wir heute einige unserer anderen Raketen an Entwicklungsländer verkaufen.“

Den Ausdruck „einige unserer anderen Raketen“ hatte Kalam in seinem Interview mit dem Magazin India Today wohl mit Bedacht gewählt. Er schloß damit nämlich Agni aus, deren Reichweite und Traglast (eine Tonne) sie zu einer Mittelstreckenrakete – „Intermediate Range Ballistic Missile“ (IRBM) – macht, die Atomsprengköpfe nach Ostafrika und den Mittleren Osten und im Osten bis nach Beijing tragen könnte.

Da sich Indien nach dem Atomversuch von 1974 die Option für ein Atomwaffenprogramm offenhielt und dem „diskriminierenden“ Atomsperrvertrag fernblieb, hätte es nun mit Agni das Trägersystem für eine Atomlast. Um den Eindruck zu vermeiden, daß die Regierung ihr Nuklearprogramm „aktualisieren“ könnte, beeilte sie sich, der Welt zu versichern, daß Agni nur ein „Technology Demonstrator“ sei und sie nicht an eine Serienfabrikation denke.

In seinem Interview machte Kalam, immerhin ein hoher Regierungsbeamter, allerdings klar, daß das Land nun über einen Träger verfüge, der „mit konventionellen und unkonventionellen Waffen bestückt werden kann. Es ist an der Regierung zu entscheiden, welche von beiden sie einsetzen will. Aber das Verteidigungsministerium hat wiederholt festgehalten, daß ein Land, das uns mit Nuklearwaffen angreift, nicht ungeschoren davonkommen wird.“ Während Agni in den gleichen Graubereich relegiert wird, in dem sich das Atomwaffenprogramm befindet, werden Armee und Luftwaffe in einigen Monaten mit einer begrenzten Anzahl von je 100 und 25 Prithvi-Raketen ausgestattet werden.

Damit dürfte der Subkontinent vor einem Raketen-Wettrüsten stehen: Pakistan hat mit chinesischer Hilfe zwei Raketentypen, „Hatf 1“ und „Hatf 2“, entwickelt. Erstere ist eine Boden-Luft-Rakete mit einer Reichweite von 80 Kilometern, die zweite eine Boden-Boden-Rakete mit einem Radius von 300 Kilometern. Zugleich beschuldigen die USA Pakistan und China des Transfers, beziehungsweise der Montage in Pakistan von M-11-Raketen, die 600 Kilometer weit fliegen. Beide Länder begründen ihre Raketenprogramme damit, daß eine Symmetrie der Abschreckung notwendig sei.

Für indische Generäle sind zudem wirtschaftliche Gründe maßgebend: Sparzwänge haben in den letzten sechs Jahren zu einem langsameren Wachstum des Verteidigungsbudgets geführt. Zusammen mit dem Ausfall des sowjetischen Alliierten bewirkte dies eine Überalterung der konventionellen Waffenträger – Flugzeuge, Schiffe, Panzer. Die Streitkräfte schauen daher, in den Worten des Armeechefs Joshi, nach „more bang for the buck“ – mehr Schußkraft für das gleiche Geld. Und sie finden diese force multipliers in Raketenwaffen, welche die kostspielige und langfristige Erneuerung der zentralen Waffensysteme überbrücken helfen und die nötige Herabsetzung der Mannstärken auffangen können.

Das Zitat von Abdul Kalam zeigt zudem, daß auch Indien von den westlichen Waffenhändlern gelernt hat und mit dem Export solcher Systeme seine Entwicklungskosten wieder einbringen will. Die Gefahr der nuklearen Weiterverbreitung in Südasien wird damit um ein qualitativ neues Element angereichert.

Das MTCR-Übereinkommen scheint dabei ebensowenig eine effektive Barriere darzustellen, wie es der Atomsperrvertrag für die Ausbreitung von Nuklearwaffentechniken gewesen ist. In Indien setzen sich die zwei internationalen Arrangements ohnehin dem Vorwurf der Doppelmoral aus: Während die westlichen Raketenstaaten die entsprechenden Technologien als legitime strategische Optionen beanspruchen, verweigern sie sie den Habenichtsen als moralisch verwerflich. Das Land fordert daher seit langem eine globale und umfassende Abrüstung aller Nuklearwaffen und -träger.

Gleichzeitig wird in einem von Konkurrenz geprägten globalen Handelsregime eine Kontrolle sogenannter dual use technology immer schwieriger. Nichts zeigt dies deutlicher als die Verschärfung der MTCR-Richtlinien im Januar 1993, mit denen der Export jeglicher Raketentechnologie verboten wird, unabhängig davon, ob sie der Entwicklung von Waffen oder zivilen Gütern dient – es genügt, daß sie auch bei der Entwicklung von Trägersystemen für Massenvernichtungswaffen eingesetzt werden könnte.

Eines der ersten Opfer dieser neuen Richtlinien wurde Indiens Raumfahrtprogramm. Im Frühsommer 1993 zwangen die USA Rußland, die Lieferung von kryogenen Antriebssystemen für indische Raumfahrtraketen einzustellen, obwohl diese nach offizieller Lesart nur dazu dienten, zivile Satelliten im Weltraum zu plazieren, und nicht zur Entwicklung von waffenbestückten Interkontinentalraketen.

Vor kurzem hat nun aber eine indische Zeitung berichtet, daß sich Inder und Russen noch vor dem Einfrieren dieser Lieferung darauf verständigt hätten, die Technologie in der Form eines Austauschs von Wissenschaftlern zu transferieren. Aber selbst wenn die „Verweigerung“ von sensitiver Nukleartechnologie gelingen sollte, schafft die konventionelle Bewaffnung der neuen Raketengeneration mit ihrer tieferen Hemmschwelle eine neue Bedrohungsangst. Der „Krieg der Städte“ zwischen dem Iran und dem Irak hat das rasche Umschlagen von Bedrohung in Aggression bewiesen, und auch in Indien und Pakistan liegen Millionenstädte im Fadenkreuz beider Armeen.