Die Heimkehr des verlorenen Sohnes

■ Gestern kehrte der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn nach 20jährigem Exil in seine Heimat zurück. Während er in Wladiwostok landete, wurde über seine zukünftige...

Gestern kehrte der russische Schriftsteller und Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn nach 20jährigem Exil in seine Heimat zurück. Während er in Wladiwostok landete, wurde über seine zukünftige politische Rolle bereits heftig gestritten.

Die Heimkehr des verlorenen Sohnes

Nach 20 Jahren Exil hat der 75jährige Alexander Solschenizyn es gestern nachmittag fertiggebracht, von zwei Himmelsrichtungen gleichzeitig über Rußland hereinzubrechen. Aus dem westlichen – weil ja amerikanischen – Anchoridge – landete er planmäßig am Nachmittag in der östlichsten aller russischen Großstädte: Wladiwostok. Seine eigentliche Ankunft in Rußland vollzog Solschenizyn jedoch an historischem Ort. Bei einem ersten Zwischenstopp besuchte er am frühen Morgen die berüchtigte „Lagerhauptstadt“ Magadan am Ochotskischen Meer. Dort, wo der Autor des Buches „Der Archipel Gulag“ selbst acht Jahre in Lagern hatte zubringen müssen, erinnerte er an die Millionen Terroropfer des stalinistischen Lagersystems.

„Ich verneige mich vor der Erde an der Kolyma [einem Fluß bei Magadan], wo Hunderttausende, wenn nicht Millionen unserer hingerichteten Landsleute begraben sind“, sagte er in einer kurzen Ansprache. „Heute – in den Leidenschaften der gegenwärtigen politischen Veränderungen – werden die Millionen Opfer auch von jenen leicht vergessen, die diese Vernichtung nicht betraf, und mehr noch von jenen, die diese Vernichtung zu verantworten haben.“

In Wladiwostok, wo rund 7.000 Fans seiner Ankunft harrten, wurde der Nobelpreisträger von seinem ältesten Sohn Jermoli begrüßt. Der offizielle Teil der Begrüßung war auf ein Minimum reduziert worden. Auch die angebotene Unterkunft in einer staatseigenen Villa hatte Solschenizyn zurückgewiesen. Den Stadtvätern Wladiwostoks hatte sein Eintreffen schon vorher Kopfschmerzen bereitet. Die Stadt gilt aufgrund des Hafens und der Nähe zur chinesischen Grenze als ein Zentrum der organisierten Kriminalität.

Nach einer kurzen Phase der Akklimation gedenkt der Nobelpreisträger, in einer langen Reise gen Moskau sein Heimatland mit den Sinnen wieder in Besitz zu nehmen. Der Chefredakteur der Tageszeitung Nesawisimaja Gaseta sagte ihm einen Triumphzug wie dem Gogolschen „Revisor“ voraus: „Zu beiden Seiten des Zuges (Waggons, Coupés, Automobils) – Massen von Lokalpolitikern, edler Damen und unschuldiger Mädchen, Narren in Christo, Krüppel, Bettler, Statthalter des Präsidenten vor Ort, Oberkommandeure, Militärorchester, Monarchisten und Demokraten – alles unter Glockengeläut.“

Ein Anachronismus im heutigen Rußland

„Ein großer Schriftsteller ist so etwas wie eine zweite Regierung“, dieser Satz stammt schon von Solschenizyn selbst und deutet auf das Anachronistische an dieser Heimkehr hin. Das Gewissen der Nation brauchen die Literaten im Rußland von heute nicht mehr zu spielen. Während der Barde im Ausland gegen Pornographie und die westliche Wegwerfgesellschaft zu Felde zog, begann sich die russische Gesellschaft nach der Swatch und dem Kabelfernsehprogramm zu richten. Als er die „moralische Bedeutung des Bodens“ und „die Muße des Volkes“ propagierte, widmeten Millionen von BürgerInnen ihre Muße einer mexikanischen Seifenoper mit dem Titel „Auch die Reichen weinen“. Wie wird Solschenizyn diese Welt aufnehmen und wie sie ihn?

Die Tageszeitung Komsomolskaja Prawda befragte diese Woche ein bunt zusammengewürfeltes Häufchen von Persönlichkeiten, welche Hoffnungen sie mit Solschenizyn verbinden. Am positivsten sehen seine Heimkehr demnach alte Co-Dissidenten wie der einstige Dissident und heutige Menschenrechtsaktivist Sergej Kowaljow: „Jetzt haben wir hier noch einen ehrenwerten, verdienten und zu tiefem Nachdenken fähigen Menschen mehr. Ich hoffe, daß er sich nicht den Nationalpatrioten anschließt.“ Zu dieser Sorge scheint vorläufig wenig Anlaß zu bestehen. Denn bei allen eigenen vaterländischen Tönen hat sich der Schriftsteller in letzter Zeit deutlich von dieser Gruppe distanziert, am krassesten von Wladimir Schirinowski. Entsprechend abweisend sind deren Reaktionen auf seine Ankunft.

Klammheimlich freut sich dagegen der neuerdings mit der Sozialdemokratie liebäugelnde KP-Führer Gennadij Sjuganow: „Ich habe dieser Tage seine letzten Interviews in der westlichen Presse bekommen. Da dürfen wir einige Kritik erwarten, auch an die Adresse des Präsidenten.“ Abwartend kritisch zeigen sich führende WirtschaftswissenschaftlerInnen, wie zum Beispiel Grigori Jawlinski oder Larissa Pijaschewa. Letztere schreibt: „So allerlei kann sich um ihn herum kristallisieren, wie soll ich sagen – nein, nicht Dreck, keine Hexenjagd, aber doch viele von den jetzt so verbreiteten Niederträchtigkeiten. Man wird versuchen, ihn zu benutzen, und zwar Leute der zweiten Garnitur.“

Eine mißgünstige Öffentlichkeit wird Solschenizyn kaum schrecken. Wovor sollte ein Mensch schon Angst haben, dem es gelungen ist, im Archipel Gulag nicht nur zu überleben, sondern auch einen Roman zu schreiben? Doch verteidigen wird sich Solschenizyn dennoch: nämlich dagegen, daß man ihm die Ruhe zum Schreiben nimmt. Getreu nach dem Vorbild seines einsiedlerischen Anwesens in Vermont entsteht in der scharf bewachten Bonzensiedlung Troize Lykowo bei Moskau seine neue Bleibe. Hierhin will Solschenizyn auch sein gewaltiges Archiv verbringen und es dem Land sowie einer begrenzten Öffentlichkeit zum Geschenk machen. Nur traditionell sowjetisches Handwerkerverhalten verzögerte bislang dieses Vorhaben. Bei der Gratwanderung zwischen Ayatollah und Monument neigt sich der Nobelpreisträger inzwischen milde auf die letztere Seite und akzeptiert schon so manches, was er früher verdammte. Noch immer mißfällt ihm aber, daß Rußland jetzt eine „Scheinföderation“ mit nationalen Autonomien ist. Wie seine Landsleute den von ihm favorisierten zentralistischen Einheitsstaat auf demokratischem Wege verwirklichen sollen, betrachtet er wohl als deren Sache. Er selbst, so kündigte er an, sei aber bereit, eine aktive Rolle im sozialen Leben Rußlands zu übernehmen. „Wenn meine Stimme gehört wird, würde ich gerne Einfluß auf die Genesung Rußlands nehmen.“ Falls Solschenizyn weiter die Seele seiner Nation widerspiegelte, dann hätte auch Maxim Gorki noch recht mit seinem Ausspruch: „Übrigens sind alle Russen sonderbar: Es ist nicht zu begreifen, was sie wollen – eine Republik oder eine Sintflut.“ Barbara Kerneck