: Klaustrophobische Anfälle
■ Eine Nachtfahrt im Rave-Train, Deutschlands erstem fahrbaren Tanztempel
Wenn Herr Pehle und die Dame Didra immer öfter zu nachtschlafener Zeit eine „angesagte Tekkno- Location“ namens E-Werk aufsuchen, wenn aus der Wohnung Herrn Krähes, der seit Jahrzehnten nichts gelten läßt außer Santana und Gustav Mahler, plötzlich monotones Gedröhne mit „160 Beats per Minute“ zu hören ist, ja, wenn selbst Herr Hanf aus dem westfälischen Elfenbeinturm der Uni Münster alljährlich zur Love- Parade anreist, dann kommt man wohl oder übel zu dem Schluß, daß man dieser Entwicklung Beachtung schenken muß.
Und wenn dann die komplette Zeitgeist-Presse den „ersten deutschen Rave-Train“ als „fahrbaren Tanztempel“ der Szene feiert, als „Mega-Kult Partyfeeling“, bei dem „der Sound bis zum Lokführer knallt“, was läge näher, als sich selbst ein Bild zu machen und mitzufahren? Nun, zum Beispiel bei Kerzenlicht und einem leckeren Glas Donautaler Edelkadarka den Duden auf Rechtschreibefehler zu überprüfen, im „Büro für Kicker und Dosenbier“ die Rangliste mal wieder geradezurücken, sich an ein paar alten, aber ehrlichen Neil- Young-Platten zu erfreuen oder einfach früh in die Federn zu gehen.
Fast hat man sich auch zu diesem Entschluß durchgerungen – mögen sich Herr Pehle und die Dame Didra, die Wahnsinnigen, doch alleine die Nacht um die Ohren schlagen – da hört man gerüchteweise und voll Ehrfurcht, daß auch der Mega-Star WestBam (!) Duden und Donautaler beiseite legt, um den Train zu besteigen. (WestBam (!) ist ein Mann, der sein Geld mit dem Auflegen und Umdrehen von Schallplatten verdient und der es in diesem Beruf so weit gebracht hat, daß der Wiener bis zur überfälligen Einstellung seinen Namen nur mit einem nachgestellten Ausrufezeichen zu drucken wagte.)
So besuchen Herr Krähe und ich unvorsichtigerweise die Pressekonferenz des Trend-Radiosenders Kiss FM, der für die Organisation der „ravenden Dampflok“ zuständig ist.
Danach gibt es kein Zurück mehr, zu verheißungsvoll klingt die Sache: Neun Wagen „aus Honeckers Regierungszug“, ein „Generator, der eine Kleinstadt mit Strom versorgen könnte“, zwei ausgebildete Krankenschwestern und ebenso viele Bars sollen von 0.00 Uhr an acht Stunden lang von einer musealen Dampflok über Nebenstrecken des Berliner Umlandes geschoben werden. Die Veranstalter garantieren Lärm, Enge, Hitze, klaustrophobische Anfälle und körpereigene Endorphine bei Tempo 100. (Wobei allerdings zumindest die vom Kiss- Pressesprecher vertretene These, daß ab Tempo 80 Endorphine freigesetzt werden, als nicht endgültig wissenschaftlich abgesichert zu gelten hat; Herr Grams, medizinischer Autodidakt, behauptet sogar, ebenso wahrscheinlich sei es, daß man sich durch den Verzehr von zwei Kilo Bananen in den angestrebten Rauschzustand versetzen könne...) Darüber hinaus aber interessieren Herrn Krähe und mich auch die „körpernahen Geschichten, die im E-Werk erst nach vier Stunden entstehen“. Zumal, wenn sich alles in der „aggressionslosesten Gesellschaft“ abspielt, „die man momentan zusammenbekommt“, und das Ganze eine „absolut positive Veranstaltung“ wird, mit „nur positiven Vibes“.
Auch der kurzfristig angekündigte Ausfall WestBams (!) kann uns nicht wirklich mehr abschrecken. Schließlich steht „Female DJ Shooting Star“ Ellen Alien weiterhin zur Verfügung, ebenso diverse „Frontpage Next Generation Favorites“, deren Namen wir niemals hörten, denen aber trotzdem das Vertrauen zu schenken wir uns entschließen, sowie ein Herr namens Dr.Motte. Daß auch Herr Dr.Motte nicht zu unterschätzen ist, geht uns schnell auf, als der Pressesprecher von Kiss FM ihn hinsichtlich seiner Bedeutung für die Musikgeschichte mit „Wilhelm Strauß, dem Walzerkönig des 19. Jahrhunderts“ vergleicht.
Freitag abend, 23.15 Uhr: Auf Bahnsteig 1 des Berliner Hauptbahnhofes haben sich ca. 500 meist jüngere, aber zu allem entschlossene Raver versammelt (Dame Didra: „Kaum hardcoremäßige E- Werk-Leute dabei!“). Während wir uns zur Leibesvisitation einreihen, versucht mir Herr Pehle von links vergeblich die Bedeutung des Wortes Rave zu erläutern („... weiß keiner so genau, vermutlich keine Musikrichtung, wird inflationär gebraucht für Partys und Rausgehen...“), indessen Herr Krähe zu meiner Rechten schwer über den Charakter der zu erwartenden Techno-Musik schwadroniert („... auf die Spitze getriebener Off- Beat...“, „dum – ts – dum – ts – dum...“). Die gefürchtete Durchsuchung bringt wider Erwarten kein greifbares Ergebnis, da die Kontrolleure zwar jeden Körper zentimetergenau abtasten, sich aber nicht für unseren riesigen, getränkeprallen Rucksack interessieren.
Als sich der erste Rave-Train Deutschlands mit halbstündiger Verspätung in Bewegung setzt, sitzen wir in einem der wenigen chill- out-Abteile und wappnen uns mit Aufbaugetränken und dem einen oder anderen Bier gegen den akustischen Schock, der in dem Tanzwagen droht. Diese Methode scheint uns wirkungsvoller als der untaugliche Versuch eines SFB- Kamerateams, mit Ohropax eine gewisse Resthörfähigkeit über die Nacht hinaus zu sichern. Auf einmal hat die Dame Didra Geburtstag und spendiert Sekt. Danach verschwimmen die Erinnerungen; alles übrige sind stroboskopisch bunte Bilder von 500 schwitzenden, auf verschiedenste Weise berauschten Tänzern, von 250.000- Watt-Lärm, der durch verstopfte Gänge kriecht, in denen sich Leute in altmodischen Trainingsanzügen mit 0,33er-Beck's-Dosen für DM fünf zuprosten und gegenseitig versichern, daß „alles voll super“ sei; Bilder von Wahnsinnigen, die zusätzlich noch Walkman hören, von herumirrenden Schaffnern und erschreckten Bahnhofs-Anwohnern...
Und hätte sich nicht jemand kurz vor Berlin an einer Notbremse festhalten wollen, wären wir auch fahrplanmäßig wieder am Hauptbahnhof eingerollt. Ob wir im nächsten Jahr nach San Sebastian mitraven – mit abschließendem Beach-Rave –, diskutieren wir, sobald wir wieder hören können. Martin Sonneborn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen