: Bremen hinkt hinterher -betr.: "Schwerbehinderte LehrerInnen in Bremen", taz vom 16.5.94
Betrifft: „Schwerbehinderte LehrerInnen in Bremen“, taz vom 16.5.94
In Ihrem Artikel wird darauf verwiesen, daß sich schwerbehinderte Lehrerinnen und Lehrer in Bremen darum bemühen, gleiche oder ähnliche Regelungen z.B. hinsichtlich der Arbeitszeit zu erwirken wie ihre KollegInnen in anderen Bundesländern. Ich kann und möchte aufgrund meiner eigenen Erfahrungen einiges dazu beitragen, darauf aufmerksam zu machen, wieweit Bremen hinter dem in anderen Bundesländern üblichen „Standard“ hinterherhinkt. Bevor ich 1990 als Lehrer nach Bremen wechselte, war ich einige Jahre im hessischen Schuldienst tätig. In Hessen erhielten (und ich denke, dies ist heute noch so) schwerbehinderte LehrerInnen automatisch per gesetzlicher Regelung eine Ermäßigung der Unterrichtsverpflichtung von zwei Unterrichtsstunden. Die Ermäßigung konnte sich auf Antrag des Behinderten nach amtsärztlicher Begutachtung auf bis zu fünf Stunden erhöhen. Und dies war so, egal, ob die Regierung nun „Rot/Grün“ oder „Schwarz/Gelb“ war. Für mich als Gymnasiallehrer bedeutete das im konkreten Fall, daß ich bei voller Bezahlung 20 statt 24 Stunden unterrichten mußte (Heute wären dies dort 19 statt 23 Stunden für mich). Mit meinem Wechsel nach Bremen betrug die Unterrichtsverpflichtung für mich 23 Stunden, also die gleiche Anzahl wie ein „gesunder“ Kollege.
Der interessierte Leser mag sich jetzt vielleicht fragen, mit welchem Recht ich/wir eine Stundenermäßigung einfordern. Ich bin z.B. stark sehbehindert und benötige ein Vielfaches an Zeit und damit auch Lebensenergie und Lebenszeit, um den Unterricht vorzubereiten, die Korrekturen durchzuführen, meine Kenntnisse durch Lektüre zu erweitern. Mein Arbeitstag ist also länger als der von gesunden KollegInnen, will ich das gleiche Pensum schaffen, und nicht, weil ich irgendwie „paddeliger“ bin, sondern weil meine körperliche Ausstattung es nicht hergibt. Eine gerechte Behandlung von Schwerbehinderten bedeutet meines Erachtens zu erkennen, daß „Leistung“ ein relativer Begriff ist, daß manch Schwerbehinderter ein erhöhtes Maß an Leistung, Energie und zum Teil auch Leben investieren muß, um in dieser Arbeitswelt bestehen zu können. Soll also die Arbeitskraft von schwerbehinderten LehrerInnen so lange wie möglich erhalten werden, so ist eine Stundenermäßigung ein Muß!
Warum aber (noch) nicht in Bremen? Es stimmt, das Schwerbehindertengesetz schreibt dies nicht zwingend vor. Aber alle Bundesländer der alten Bundesrepublik haben ähnliche Regelungen wie zuvor aus Hessen geschildert. Warum also in Bremen nicht? Das Schwerbehindertengesetz kennt auch den Grundsatz der Gleichbehandlung. Aber ist die bremische Regelung wirklich Gleichbehandlung bzw. reicht dieses Verständnis von Gleichbehandlung aus?
Zur Illustration ein weiteres Beispiel. In Bremen wird bei der Verbeamtung von schwerbehinderten LehrerInnen geprüft, ob sie voraussichtlich bis zur Erreichung der Dienstaltersgrenze dienstfähig sein werden (wie bei nichtbehinderten KollegInnen). In Hessen wurde bei meiner Übernahme in das Beamtenverhältnis geprüft, ob die Diensttauglichkeit für fünf Jahre gegeben ist. Dies war keine gesetzliche Regelung, wurde aber aufgrund einer entsprechenden Empfehlung des Bundesinnenministerium so angewendet. Und in Bremen? Da verweist die Bremer Bildungsbehörde bzw. die SKP auf die bestehenden gesetzlichen Regelungen und ansonsten auf die Einzelfallregelung. Mir und vielen anderen hat sie im Vergleich zu Regelungen in anderen Bundesländern nichts oder wenig gebracht. Hier gäbe es noch zahlreiche weitere Beispiele. Ich habe den Eindruck, daß in vielen Bremer Behörden die Behandlung der Schwerbehindertenproblematik zwar durchaus gutgemeint, aber noch eher traditionell im Sinne von „Zurück“ ist. Schwerbehinderung ist eine dauerhafte, oft lebenslange Beeinträchtigung die auch einer dauerhaften, abgesicherten Regelung bedarf. Warum nicht auch in Bremen?
Hermann Tietke
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