: Bestürzung allein reicht nicht
■ Der Bund der Einwanderer aus der Türkei gedachte der Opfer des Brandanschlages in Solingen / Kardinal Sterzinsky: Orientierungslosigkeit entspringt Unsicherheit
Für die doppelte Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht für Ausländer hat sich die Senatorin für Arbeit und Frauen, Christine Bergmann, am Sonntag auf einer Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Solinger Brandanschlags ausgesprochen. Auf der Veranstaltung des Bundes der Einwanderer aus der Türkei in Berlin-Brandenburg in der Neuköllner „Werkstatt der Kulturen“ setzte sich die Senatorin auch dafür ein, durch gezielte gesetzliche Regelungen der Tatsache Rechnung zu tragen, daß Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist. „Ich bin mir sehr wohl darüber klar, daß solche Gesetze nicht den Ausländerhaß und die gewalttätigen Ausschreitungen von heute auf morgen unterbinden würden. Doch sie wären ein klares Zeichen für eine integrative Politik“, sagte die Senatorin vor etwa 200 geladenen Gästen.
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Jerzy Kanal, beklagte, daß Bestürzung und Empörung nach gewalttätigen Ausschreitungen gegen Ausländer nicht dazu ausgereicht haben, überzeugende Zeichen zu setzen, um potentielle Täter von weiteren Gewalttaten abzuhalten. Der Höhepunkt sei mit der Menschenjagd in Magdeburg erreicht worden. Kanal erinnerte an das Zitat des amerikanischen Generals Lucius Clay, daß die Demokratie in Deutschland eines Tages daran gemessen werde, wie weit hier jüdisches Leben möglich sei. „Man muß diesen Satz heute erweitern und feststellen, daß die Demokratie im vereinten Deutschland daran gemessen werden muß, wie weit hier Ausländer in Frieden mit ihren Nachbarn leben können.“
Der Verfall bisher gültiger Werte und die zunehmende Orientierungslosigkeit entspringen einer großen Unsicherheit, meinte der Kardinal des Bistums Berlin, Georg Sterzinsky. Die Welt befinde sich inmitten der ersten globalen Revolution. „Die neue Weltgesellschaft wird sich von der bisherigen ähnlich fundamental unterscheiden wie die Welt nach der industriellen Revolution von der ihr vorausgegangenen langen agrarischen Periode“, zitierte Sterzinsky einen Bericht des Club of Rome.
Die existierenden politischen Systeme erwiesen sich bis jetzt als nicht ausreichend anpassungsfähig, um die anstehenden Probleme menschenwürdig zu regeln. Plan- und Marktwirtschaft könnten den Hunger in der Welt nicht stillen. Nationalstaaten mit ihren Staatsbürgerschaftsregelungen würden zunehmend unglaubwürdig. Sie wollten, in Zeiten zunehmender Mobilität, „Ordnung“ nur durch Aus- und Abgrenzung herstellen. So würden Aggressionspotentiale eher geschürt als befriedet. Christiane Badenberg
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen