: Schein oder Nichtschein Von Andrea Böhm
Es gibt viele Welten in dieser Gesellschaft. Eine spielt sich jeden Tag zwischen neun Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags ab, wenn Amerika seine Seelen, Neurosen und Perversionen entblößt. Dann nämlich sitzen Millionen Amerikaner vor der Glotze und ein paar Auserwählte in den Fernsehstudios, um bei „Oprah“, „Geraldo“ , „Jerry Springer“ oder „Maury Povich“ mitzuerleben, wie 16jährge Mädchen ihre Väter des Inzests beschuldigen; Vertreter der rassistischen White Aryan Resistance schwarzen Gästen den totalen Krieg ankündigen; skelettähnliche Frauen über ihre Magersucht berichten; christliche Fundamentalisten Homosexuellen an die Gurgel gehen, und vice versa, Vergewaltigte neben Vergewaltigern und Prostituierte neben Pornoproduzenten Platz nehmen; Aidskranke ihren Leidensweg beschreiben; oder die Dicksten des Landes hinzugeschaltet werden, weil sie sich mit 250 Kilo Lebendgewicht nicht mehr aus ihrer Wohnung bewegen können. Was immer an menschlichen Dramen denkbar oder undenkbar ist, die unermüdlichen Späher der Talk-Show-Stars Oprah Winfrey, Jerry Springer oder Maury Povich schleppen die Beteiligten früher oder später ins Studio, verarbeiten es zur Dokumentar- Version einer Soap-opera und werfen es Millionen von Voyeuristen als visuellen Fraß vor.
Nun unterliegen die US-amerikanischen Talk-Show-Gastgeber einem enormen Konkurrenzdruck. Einschaltquoten entscheiden über Schein oder Nichtschein – und im Rüstungswettlauf um immer härtere, immer tragischere, immer grausamere Stories bleiben nur die Stärksten auf Sendung.
Phil Donahue, zweifellos einer der Großen seines Fachs, wollte zum ultimativen Schlag gegen seine Konkurrenten ausholen und suchte bei einem Gericht um Erlaubnis nach, die Exekution des wegen Mordes zum Tode Verurteilten David Lawson zu filmen.
Welch eine Sternstunde des Fernsehens bahnt sich da an: Geboten worden wäre die ultimativ perverse Kombination aus Nervenkitzel, Sadismus und real life- Drama inklusive Gewissensentlastung. Denn David Lawson hat sich mit der Aufzeichnung seiner eigenen Hinrichtung einverstanden erklärt. Wer kann die Praxis der Todesstrafe besser legitimieren als der Verurteilte, der scheinbar freiwillig mitspielt.
„Wie fühlen Sie sich?“ würde Donahue den Delinquenten fragen, bevor letzterem eine tödliche Injektion verpaßt wird. Im Studio säßen nach Abspielen des Videotapes die Familie Lawsons und seines Mordopfers, um auf dieselbe Frage zu antworten: „Wie fühlen Sie sich?“ Ein paar Zuschauer würden unter Beifall ihrem Unmut Ausdruck verleihen, daß Mörder heute nur noch „eingeschläfert“ und nicht mehr auf dem elektrischen Stuhl „gebraten“ werden; ein paar würden unter Buhrufen die Abschaffung der Todesstrafe fordern. Und Phil Donahue könnte die Einschaltquoten seines Lebens feiern.
Allem Anschein nach wird Donahue dieses Mal noch bei den Gerichten auf Granit beißen. Doch es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis ein Zusatzartikel in die Verfassung aufgenommen wird, der da lautet: Das Volk hat ein Recht auf Live-Übertragung – auch und gerade dann, wenn in seinem Namen einzelne Mitglieder umgebracht werden.
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