Frauen im Knast

■ Bericht aus dem Berliner Frauenknast Plötzensee

Das Leben hinter Gittern! Wie geht eine Frau zum ersten Mal übern Kudamm, wenn sie aus dem Osten und aus dem Knast kommt?

Die Mauer war gefallen, die um das Land und die um das Gefängnis. Zwar landeten die zweifach Eingesperrten im Westen wieder hinter Gittern, aber alles war doch anders.

Justizvollzugsanstalt für Frauen in Westberlin-Plötzensee. Eines der Häuser steht vor den Wachtürmen und dem hochtechnisierten Tor. Hier, auf der Sozialtherapie, treffen wir die Inhaftierten, die immerhin bereit sind, uns wenigstens anzuhören. Als wir im Aufenthaltsraum zwischen ihnen auf dem Plüschsofa sitzen, dem Fernseher genau gegenüber, macht keine aus ihrem Mißtrauen einen Hehl.

Beate ist schließlich die erste der sechs Frauen, die zustimmt. Sie wird erzählen, ja. Nicht über das Delikt, aber über ihre Jahre, die sie deswegen in verschiedenen Knästen zubringen mußte.

Sie ist Anfang Dreißig, Erzieherin, zweimal geschieden. Die Kinder sind seit langem von anderen Familien adoptiert. Beate ist 1986 zu 15 Jahren verurteilt worden. Die Amnestien in der DDR, 1987 und 1989, blieben für „Langstrafer“ wie sie folgenlos.

Sie hat ein schweres Verbrechen begangen und sagt oft: „Ich denke immer, das war doch nicht ich!“ oder: „Zehn Jahre hätte ich akzeptiert. Fünfzehn sind zuviel. Ich bin keine Mörderin, ich wollte niemanden umbringen.“

Tragödien in Beziehungen gehören fast immer zum Ausgangspunkt der Geschichten straffällig gewordener Frauen. Ohnmächtige Wut und Zerstörungswille richten sich gegen Schwächere, nicht gegen den, der gemeint war. Straftäterinnen sind in vielen Fällen mißbraucht worden. Was Beate erzählt, sagt auch etwas aus über den DDR-Alltag. Es spiegelt das offiziell anerkannte Frauenbild wider, dem entsprechend alles bewältigt werden mußte. Das konnte nicht jede. Aber wenigstens sollte es nach außen so wirken.

Für ihre Schwierigkeiten fand Beate, auch das ist nicht selten in Fällen wie dem ihren, kaum Zuhörer, weder in der Familie noch unter Kollegen und Freundinnen. Konflikte auszutragen, hatte sie nie gelernt.

Die Burg Hoheneck in Sachsen – der schlimmste Strafvollzug in Beates Leben. Sie erzählt: „Als ich aus der U-Haft nach Hoheneck kam, habe ich dort als erstes gesehen, wie vier Beamte in einer Arrestzelle eine Frau ans Bett anketteten und mit 'nem Gummiknüppel bearbeiteten. Ich war fix und fertig. Ich hab' gedacht, ich krieg 15 Jahre wegen eines Gewaltverbrechens, ich soll hier erzogen werden, so hieß es ja in der DDR, und jetzt sehe ich gleich wieder Gewalt. Mich verfolgten Selbstmordideen. Aber da war kein Nagel, nix. Ins Treppenhaus konnte man sich nicht stürzen, da hing ein Metallnetz. Und zum Schnippeln war ich zu feige.“

Beate hatte Angst vor den „Erziehern“, anfangs auch vor den anderen Eingesperrten. Besonders vor den Mörderinnen. Später stellte sie fest: „Das sind doch Menschen. Die sind im Leben einmal schiefgelaufen, aber sie brauchen auch eine Chance. Wenn ich von dem Delikt gehört hatte, dachte ich, o Gott, was ist das für eine. Aber wenn man zuerst die Frau kennenlernt, sieht man das anders.“ So ähnlich geht es uns auch. Hätten wir erst von den Straftaten gewußt, wäre es nicht mehr möglich gewesen, offen auf die Frauen zuzugehen. Nun ist es schwer, die Gesprächspartnerin mit der Tat in Übereinstimmung zu bringen. Das Verbrechen löst immer wieder plötzlich Entsetzen aus, mitten im Gespräch. Wie konnte sie? Aber das fragt man natürlich nicht.

Beate sagt, und andere stimmen ihr zu: „Wegknacken hilft niemandem. Knast bringt Haftschäden, von denen sich manche nie wieder erholen. Dumm wird man in der Zelle, die Konzentrationsfähigkeit läßt nach. Das seh' ich an mir. Gerade im Osten lief das so. Alles bestimmten andere, den dreischichtigen Arbeitsablauf, die Freistunde, das Fernsehen, die Klamotten. Nichts durfte man selber entscheiden.“

Aber dann, Wendezeit selbst dort. Auf dem Bildschirm konnten die Frauen verfolgen, was draußen geschah. Auf einmal Protestaktionen in Männergefängnissen. Da malten auch sie, in Berlin-Hohenschönhausen, wo Beate inzwischen saß, ein Plakat: „Generalamnestie!“ Endlich frei sein, auch als Langstraferin von den Ereignissen profitieren. Die mit den kurzen Haftstrafen waren längst zu Hause. Den Übriggebliebenen stand im Oktober 1990 der vierte Umzug, in den Westen, bevor, weil die Gefängnisse in Ostberlin geräumt wurden. Im ersten Moment erstaunlich: Die Frauen wollten nicht nach Plötzensee. Sie fürchteten sich vor dem Neuen, vor der undurchschaubaren Bürokratie, dem Kontakt mit Drogenabhängigen, vor allem, was kommen würde.

Beate fiel es schwer, „ihren“ Knast aufzugeben. Im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen ging es ihr besser als in Hoheneck. Weniger Frauen in einem Kommando, wie das im Ostknast hieß. Bessere Ausstattung der Zellen. Und was nun? „Vielleicht schlagen sie dort wieder“, dachte Beate manchmal. „Woher sollte ich das wissen? Ich kannte keinen Westknast.“

Sie fuhr durch Berlin. Sehen konnte sie nichts. Schlecht war ihr, in ihrem winzigen Verschlag in dem Bus. Immerhin öffnete ihr eine Beamtin die Tür, gab ihr die Sicht in das Fahrzeug frei. Das hätten sie im Osten nicht gemacht, fiel ihr auf. Das Vergleichen fing an. Ankunft im weißen Neubau. Ein Gelände mit Springbrunnen empfing die Neuen. Sie blieben mißtrauisch. Die Inhaftierten aus dem Westen fragten die Neuankömmlinge aus. Als die Neugier gestillt war, gab es kaum noch Gespräche. Die Hackordnung war festgelegt. Die aus dem Osten standen unten. Auf den bequemsten Platz der Station, ein gespendetes Sofa, durfte Beate sich nicht setzen. Was sie noch mehr traf: Die voraussichtliche Haftzeit verlängerte sich. Beate hatte in der letzten Phase der DDR gute Aussichten, nach der „Halbstrafe“ entlassen zu werden. Im Westen wurde sie auf „Zweidritteltermin“ abgestellt. Statt siebeneinhalb blieben Beate also zehn Jahre, im günstigsten Fall. Den anderen geht es nicht besser. Und im Westknast wird weniger verdient. Viele kommen mit ihrem Job in der Gärtnerei, Wäscherei oder Schneiderei auf nicht mehr als 8,40 Mark pro Tag. Nach einer Ausbildung während der Haftzeit sind höchstens drei Mark mehr drin. Die Ostfrauen glaubten es zuerst kaum.

Als beängstigend empfanden sie die Einzelzellen. Jahrelang waren sie nie in einem Raum für sich gewesen. Nun werden sie jeden Abend pünktlich weggeknackt. Allein mit sich auf acht Quadratmetern. Beate schüttelte nachts die Krise, schlimmer als je zuvor, weil keine da war, die zuhören konnte, sie mal in den Arm nahm. Eines nachts drehte sie durch. Sie schrie, sie warf das Geschirr gegen die Tür. Am nächsten Tag setzte sie ihre Verlegung auf eine Station mit anderen Ostfrauen durch. Mehrere bewarben sich schließlich um einen Platz in der Sozialtherapie. Die Motive unterschieden sich. Beate brauchte jemand zum reden. Sogar über ihre Tat zu sprechen schien ihr nötig. Was sie natürlich auch wollte: die im Westen möglichen Vollzugslockerungen genießen. Aber was heißt genießen. Lockerungen sind von innen gesehen eine Aufgabe, kein Geschenk. Es fiel ihr schwer, damit umzugehen. Der erste Ausgang in die glitzernde, fremde City, begleitet von einer Beamtin, war anstrengend. Krach, Bewegung, Autos, Leute, Farben. Sie kam heil über die Straße, das ging sogar leichter als erwartet. Trotzdem: Drei Stunden reichten ihr.

Seit einiger Zeit verläßt Beate täglich den Knast. Sie testet die Freiheit portionsweise. Sie absolviert als Freigängerin eine Umschulung draußen. Unglaublicher Streß, das hatte sie kommen sehen. Auf dem Arbeitsamt zu verhandeln war schon nicht leicht gewesen. Jetzt lebt sie zwei Leben gleichzeitig, das eine im Knast, das andere im Bürokauffrauenkurs. Im August 1995 wird sie voraussichtlich entlassen.

Text: Claudia von Zglinicki

Erika Berthold